piwik no script img

Schicksal In „Sieben Jahre Nacht“ schildert die koreanische Autorin Jeong Yu-jeong innere Verletzungen so detailliert wie äußere. Ein Thriller mit psychologischer TiefenschwärzeDie geheimen, nachtschwarzen Untiefen der Seele

Wenn man die ersten fünfzig Seiten übersteht, liest sich der Rest im Prinzip von selbst. Aber da muss man erst einmal durch. Die koreanische Autorin Jeong Yu-jeong legt zu Beginn ihres Romans „Sieben Jahre Nacht“ ein (An-)Spannungsniveau vor, das emotional nicht ganz leicht auszuhalten ist. Sie konfrontiert ihre Leser mit der unendlich traurigen Geschichte eines 18-Jährigen, der sieben Jahre lang wie ein Aussätziger gelebt hat, da er der Sohn eines verurteilten Massenmörders ist – des „Monsters vom Seryong-Stausee“. Gemeinsam mit dem „Onkel“, einem ehemaligen Nachbarn, der als einziger Mensch zu ihm hält, zieht der Junge von Ort zu Ort, da stets nach wenigen Monaten seine Identität bekannt und das Dasein zur Qual wird. Nunmehr leben beide schon seit einem Jahr in einem abgelegenen Dorf am Meer, als ein spektakulärer Tauchunfall, bei dem der Onkel als Rettungstaucher agiert, ihre Identität erneut in die Presse bringt. Über Nacht verschwindet der Onkel, hinterlässt jedoch das Manuskript eines Romans, in dem er die schicksalhaften Ereignisse von vor sieben Jahren literarisch verarbeitet hat ...

Der lange, dramatische Einstieg ist dramaturgisch gesehen eigentlich unnötig oder zumindest für westlich geprägte Spannungsliteratur unüblich. Der Rest des Romans besteht überwiegend aus einem groß angelegten Rückblick, und es dauert lange, bis beide Zeitebenen wieder zusammenkommen. Bis dahin wechselt die Erzählung zwischen dem Romanmanuskript des Onkels, das die Perspektive beteiligter Figuren einnimmt, und den dadurch angestoßenen eigenen Erinnerungen des Jungen. Ein diffuser Eindruck des Nicht-ganz-Realen, einer merkwürdigen Albtraumhaftigkeit liegt über dem Text, der durch die Roman-im-Roman-Kons­truk­tion noch verstärkt wird.

Mindestens ebenso ist die Symbolträchtigkeit des Settings an dieser Anmutung beteiligt: Die Handlung spielt an einem Stausee, an dessen Grund ein überflutetes Dorf liegt. Das Dorf trägt denselben Namen wie ein Mädchen, das dort geboren wurde und nun im Park am Seeufer lebt, zusammen mit seinem gewalttätigen Vater, dem Besitzer des Parks, der das Mädchen grausam zu misshandeln pflegt. Nachdem das Kind ermordet wird, treibt seine Leiche in demselben See, in dem das versunkene Dorf mit seinem Namen liegt, und als später ein Schamane eine Zeremonie, mit der die Seele wieder ins Wasser zurückgeführt werden soll, scheint sich ein symbolischer Kreislauf geschlossen zu haben, in dem die irdische Existenz des herzzerreißend zart gezeichneten kleinen Mädchens als menschliches Wesen lediglich eine flüchtige Episode gewesen ist.

Auch die anderen Romanfiguren, außer der Autorfigur des „Onkels“, sind mit kräftigen symbolhaltigen Farben ausgemalt, sind Charaktere, die irgendwie mit zu starken Zügen ausgestattet wurden, um ganz real zu wirken. Das trifft auf den grundbösen Vater des Mädchens ebenso zu wie auf den Vater des Jungen, den verurteilten Mörder, der ein Säufer und gescheiterter Sportler ist und dessen geistige Fähigkeiten nie annähernd an seine körperlichen Möglichkeiten herangereicht haben. Seine Frau, die Mutter des Jungen, die er ebenfalls ermordet haben soll, wird – im Roman des „Onkels“ – als herrschsüchtige, freudlose Person beschrieben, die seelische Grausamkeit vom Feinsten anwendet, um ihren Mann zu kontrollieren.

Alles keine netten und dabei sehr unglückliche Menschen; und was sie anderen antun, ist furchtbar. Die physischen Verletzungen schildert Jeong Yu-jeong ebenso detailliert wie die psychischen, oder vielleicht sind die äußeren Verletzungen ja ebenso Ausdruck der inneren. Cineasten kennen diese ex­treme Erzählweise aus dem koreanischen Kino. Jeong Yu-jeongs Prosa hat eine ähnlich große visuelle Kraft, die starke innere Bilder entstehen lässt. Aushalten kann man sie oft nur, wenn man sie als eben das begreift – als Bilder einer Erzählung, die gleichsam in einer Unterwasserwelt spielt, in geheimen, nachtschwarzen Untiefen der menschlichen Seele, zu denen wir normalerweise keinen Zutritt haben. Das ist beunruhigend genug. Katharina Granzin

Jeong Yu-jeong: „Sieben Jahre Nacht“. Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel. Unionsverlag, Zürich, 520 S., 19,95 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen