■ Scheibengericht: Ronald Brautigam / Daniel Höxter / Clara Schumann, Fanny Hensel, Lily Boulanger / Komponistinnen / Ethel Smith / Katia & Marielle Labeque / George Gershwin / Funeral Music / Jose Carreras
RONALD BRAUTIGAM
Robert Schumann: The Piano Sonatas Vol. 2 Sonate f-minor op. 14 (& Scherzo & Quasi variazioni op. posthum); Sonate in g-minor op. 22 (&presto passionato op. posthum). Globe GLO 5062 1991
DANIEL HÖXTER
Robert Schumann: g-Moll-Sonate op. 22 (mit dem ursprünglichen Finale); Felix Mendelssohn-Bartholdy: Sonate B-Dur op. 106; Frédéric Chopin: Sonate b-Moll op. 35. Bayer-Records 100165 1991
„Erschrecken Sie nicht — an der rechten Hand habe ich einen lahmen, gebrochenen Finger“, schrieb Robert Schumann im Sommer 1832 an einen Freund. Das war das vorzeitige Ende einer Virtuosenkarriere: nach acht Stunden täglichen Trainings, nach verbissenen Versuchen, die Grenzen des Menschenmöglichen zu sprengen, nach unerbittlichen Experimenten mit einem selbstkonstruierten mechanischen Handhalter, um die Finger, zumal den widerspenstigen Mittelfinger, immer schneller immer beweglicher zu trimmen. Den pianistischen Overkill verlangt Schumann dann in seiner ein Jahr später komponierten g-Moll-Sonate: „So rasch wie möglich“ steht als Vortragsbezeichnung über dem ersten Satz. Vierzig Takte vor Schluß wird daraus ein: „schneller“ — und ganz zum Schluß: „noch schneller“.
Noch schneller als schneller als so rasch wie möglich: das ist das Ding der Unmöglichkeit. Im letzten Satz der Sonate schließlich — einem „presto passionato“ — sind die pianistischen Probleme so maßlos, daß selbst die für ihre rasanten Tempi berühmte Clara Wieck kapitulierte. Schumann komponierte also auf ihren Rat hin ein neues Finale — und mit dem wird die Sonate op. 22 g-Moll normalerweise auch gespielt. Gleich zwei junge, ehrgeizige Pianisten haben jetzt die Urfassung vorgelegt: Ronald Brautigam ist dabei genauer und schneller, aber auch kühler im Anschlag. Daniel Höxter legt mehr Espressivo und eigenwilliges Rubato hinein und bindet damit dem Hörer selbst noch die halsbrecherischsten Passagen ganz eng aufs Herz. Brautigam führt quellenkritisch exakt beide Fassungen, das alte und das neue Finale, vor, außerdem präsentiert er auf derselben CD auch die etwa zur gleichen Zeit entstandene f-Moll- Sonate (das sogenannte „Concert sans Orchestre“) mit sämtlichen autographen Urfassungen. Höxter dagegen kombiniert Schumanns unmögliche Sonate mit der großen B-Dur Mendelssohns und der beliebten b-Moll von Frédéric Chopin. Philologische Perfektion einerseits, romantisches Bekenntnis andererseits — beides kann sich gut hören lassen. Kommt ganz drauf an, was man lieber mag.
CLARA SCHUMANN,
FANNY HENSEL,
LILY BOULANGER
Chöre und Lieder. Mitsouko Shirai, Christine Friedek, Regine Böhm (Sopran); Bernhard Gärtner (Tenor); Sabine Eberspächer, Hartmut Höll (Klavier); Heidelberger Madrigalchor, Ltg. Gerald Kegelmann. Bayer-Records BR 100041 1988
Bayer-Records ist ein Label, das mit z.T. unbekannten Nachwuchskünstlern ungewöhnliche Programme ausprobiert — und zwar in durchweg passabler Qualität, also: ein Glücksfall! Diese bunte Mischung seltener Lied- und Chorsätze von Boulanger, Schumann und Hensel ist schon etwas länger auf dem Markt, aber immer noch ungeschlagen. Man muß z.B. unbedingt gehört haben, wie Mitsouko Shirai und Hartmut Höll die Spannung weitertragen von Pause zu Pause, von stehendem Klang zu stehendem Klang in Lily Boulangers endlos langem Lied von der unendlichen Traurigkeit („Dans l'immense Tristesse“ nach einem Gedicht von Bertha Galéron de Calone, komponiert im Kriegsjahr 1916). Andererseits klingen die für meinen Geschmack scheußlich biedermeiernden Gartenlieder op. 3 von Fanny Hensel, wenn der Heidelberger Madrigalchor sie singt, viel schlanker und nicht halb so aufdringlich wie in der Ersteinspielung, die vor Jahren das Leonarda- Ensemble unter Elke Mascha Blankenburg vorgelegt hat. Wenn überhaupt, dann geht es nur so: ohne Pathos, ohne gut gemeinte Gefühligkeit — und die historische Distanz, die selbst noch die engagierteste Musikfrau heute kilometerweit trennt von der Erlebenswelt einer Komponistin Mitte des 19. Jahrhunderts, in jedem Ton mitgesungen.
Gleichermaßen gelungen auch Hensels seltsam antikisierender „Nachtreigen“ und die netten Gelegenheitslieder nach Emanuel Geibel, die Clara Schumann ihrem Manne im Jahre 1848 zum Geburtstag schenkte.
KOMPONISTINNEN
Clara Wieck-Schumann: Trio g-Moll op. 17; Fanny Mendelssohn-Hensel: Trio d-Moll op. 11. Clara Wieck Trio. Bayer-Records 100094 1990
Fanny Mendelssohn-Hensel, Klaviertrio d-Moll op. 11; Klavierquartett As-Dur (1822); Streichquartett Es-Dur (1834). (Ersteinspielungen). Céline Dutilly (Klavier); Fanny Mendelssohn-Quartett. Troubadisc TDCD 02 1991
Noch eine Bayer-Records-Produktion. Und noch ein Zitat, nachgetragen aus dem Beiheft zu der oben hoch gelobten Liedersammlung: „Leider ist dem berechtigten (...) Anliegen, Kompositionen von Frauen Gehör zu verschaffen und sie vorurteilsfrei einzuschätzen, durch feministisches Sektierertum, verbunden mit einer oft unverantwortlich dilettantischen Aufarbeitung des verstreuten und meist schwer zugänglichen Quellenmaterials, schon viel Schaden zugefügt worden.“ Leider muß hinzugefügt werden: Der Schaden hat immer noch kein Ende.
Nehmen wir zum Beispiel die beiden Klaviertrios von Clara Schumann und Fanny Hensel. Es sind ausnahmsweise Werke, die sich einer gewissen Bekanntheit erfreuen dürfen. Sie werden öfters gespielt und eingespielt. Seit Jahrzehnten bereits hat sich herumgesprochen, daß es in beiden Fällen nicht in erster Linie um Frauenkomposition geht, die mit einem besonderen Behindertenbonus begutachtet werden muß, sondern um einzigartige, je für sich einmalige Glanznummern der romantischen Kammermusikliteratur. Clara Schumanns gewaltiges g-Moll-Trio, eine in allen vier Sätzen melodisch betörend schöne und zugleich rundum gelungene Studie über die klassische Form, wurde schon von ihren Zeitgenossen für einen großen Wurf erachtet.
Von Fanny Mendelssohns d-Moll-Trio aber läßt sich ohne Übertreibung behaupten: Es ist — den Spieß einmal umgedreht und die Parallele gezogen zum d-Moll- Trio op. 49 des berühmten Bruders Felix Mendelssohn-Bartholdy— der Beweis dafür, daß s i e als Komponist erfinderischer und wohl gar begabter war als e r. Wenn man den Grad der Begabung überhaupt so messen und vergleichen kann: Formal mutiger, harmonisch spannender, thematisch eigenwilliger ist ihr „Sonaten“-Satz auf jeden Fall. Was soll dann also so eine überaus ärgerliche Einspielung dieses Stücks auf Troubadisc? Im Beiheft bloß begleitet von den üblichen larmoyanten Zitatschnipseln über die bedauernswerte Lage von komponierender Frau? Pauschal und irreführend mitsamt den beiden anderen Werken als eine „Ersteinspielung“ annonciert? Und, was das allerschlimmste ist: technisch so erbärmlich, daß außer einem wildwuchernden Hall und lautem Rauschen nichts Nennenswertes zu hören ist? Zwar in der Tat um eine Ersteinspielung (zumindest meines Wissens) handelt es sich bei dem Klavierquartett As-Dur (1822) von Fanny Mendelssohn. Man kann davon aber, wie gesagt, nicht viel hören — und auch nur ungefähr ahnen, wie die Interpreten so drauf sind.
Kurz gesagt: eine Schande. Im übrigen muß noch gesagt werden, auch auf die Gefahr hin, daß der Anschein entsteht, die Firma Bayer- Records sponsore dieses Scheibengericht: Der Einspielung der Schumann- und Henselschen Trios durch das Clara-Wieck-Trio fehlt es zwar bei allem Schmiß am rechten Feuer — es ist aber dennoch immer noch das Beste, was derzeit davon auf dem Markt zu haben ist.
ETHEL SMITH
Kammermusik Vol. I & II, Sonate a-Moll op. 7; Sonate a-Moll op. 5; Streichquartett e-Moll; Streichquintett E-Dur op. 1 (Ersteinspielungen). Fanny Mendelssohn-Quartett; Céline Dutilly (Klavier). Troubadisc TDCD 03 1991
Über Dame Ethel Smith, diesen unbeschreiblich weiblichen Beethovenbrahms aus Britanniens viktorianischer Ära und vor allem über ihre Musik müßte endlich einmal in der taz etwas geschrieben werden. Über diese CD-Veröffentlichung aber bleibt bloß bedauernd zu sagen: So was hat sie nicht verdient. Auch diese Troubadisc-Produktion (s.o.) ist aufnahmetechnisch ruiniert. Die Musiker verausgaben sich umsonst, man hört die Bögen klappern und mehr Rauschen und Hall als Ton. Namentlich verantwortlich dafür und stolz vermerkt auf dem Titel: Ing. Karl Grobholz im Studio 3 des Bayerischen Rundfunks sowie Adrian von Ripka (für das „Digital Mastering“). Man sollte so etwas gar nicht verkaufen, sondern höchstens verschenken dürfen. Oder eigentlich noch nicht mal das.
KATIA & MARIELLE LABÈQUE
Love of Colours. Sony Masterworks SK 47227 1991
Vierhändige Klavierduos rutschen sowieso ganz leicht vom geraden Pfad klassischer E-Tugenden ab: weil es zu wenig Originalkompositionen für zwei Klaviere gibt, sind sie angewiesen auf Arrangements aller Art. Die Schwestern Labèque haben mit dieser CD beherzt den Schritt vom Classic-Label zum Entertainment getan, lassen sich dezent mit Synthesizereffekten verschönern und spielen sich um Kopf und Kragen von einem Schmachtfetzen zum nächsten: Arrangements und Originale von John McLaughlin. Gleich beim ersten Stück (Michel Camilos „Caribe“) donnern die Damen los wie von der Tarantel gestochen oder vielmehr: wie von allen Musen geküßt — und können das Jazzen dann für bald zehn Minuten gar nicht mehr lassen. Hinreißend auch ihre Version von Monks „Rhythm-A-ning“, von Davis' „Blue in Green“, ganz zu schweigen von Chick Coreas „Spain“... ach, überhaupt: Labèque & Labèque haben eben die richtigen Lieblingsfarben für jede Tages- und Nachtzeit.
GEORGE GERSHWIN
Rhapsody in Blue (Originalversion, orchestriert von Grofé); Piano Concerto inF; George Gershwin's Songbook. Peter Donohoe (piano); London Sinfonietta; City of Birmingham Symphony Orchestra; Ltg. Simon Rattle. EMI CDC 7542802 1991
Es gibt derzeit rund drei Dutzend Einspielungen von Gershwins „Rhapsody in Blue“ auf dem Markt— eine schöner, gleicher und glatter als die nächste. Es gibt nur eine echt blaue „Rhapsodie“ von Gershwin— und das ist diese hier mit der London Sinfonietta unter Simon Rattle. Schon das Klarinettenglissando ganz am Anfang klingt wieder so atemberaubend wie beim allerersten Mal, und dann heißt es, die Ohren angelegt: so scharf gestochen der Rhythmus, so ungezähmt das Klavier, so schmerzlich aufgerauht der Blues, so wütend das Blech, vor allem aber: so irrsinnig die Tempi und die hingerotzten Tempobrechungen.
Rattle hat dieses Wunder auf ganz einfache Weise zuwege gebracht. Er hält sich an das Vorbild der von Gershwin selbst im Jahre 1924 eingespielten Interpretation der Orchesterfassung, die um eine ganze Musikwelt magerer und schneller ist, als es die zum fetten sinfonischen Klassiker gemästete Rhapsodie dann später wurde. Zum Beispiel ist es heute allgemein üblich, den ursprünglichen Alla-breve-Takt zum braven Vier-Viertel zu zähmen. Rattle hat also eine im strengen Sinne historische Einspielung versucht — und die ist so hervorragend gelungen, daß sie nicht nur für sich und für Gershwin spricht, sondern zugleich die Frage aufwirft: Wie konnte es dazu kommen, daß sich noch im zwanzigsten Jahrhundert in so relativ kurzer Zeit eine so geballte Ladung musikalischer Dummheit breitgemacht und durchgesetzt hat?
Zu seinem Klavierkonzert schrieb George Gershwin im November 1925 in der 'New York Tribune‘: „Der erste Satz verwendet die Rhythmik des Charleston. (...) Der zweite Satz ist poetisch, nächtlich gestimmt — was man oft als amerikanischen Blues bezeichnet, aber die Faktur ist geklärter als sonst oft der Fall. Der Schlußsatz schließt sich stilistisch an den ersten an. Er ist eine Orgie der Rhythmen.“
Stimmt so. Jedenfalls, wenn Donohoe und Rattle am Werk sind.
FUNERAL MUSIC
Trauermusik. Diverse Komponisten und diverse Interpreten. EMI CDZ 7672532 1991
Beim Recyceln alter Aufnahmen in marktgerecht gestückelten Appetithäppchen gibt es nur zwei Möglichkeiten: die Auswahl ist gut oder schlecht. Meistens ist sie eher entsetzlich schlecht und wird ohne Rücksicht auf den guten Geschmack der Gelegenheitsklassikhörer getroffen, die ja sowieso für ein bißchen beschränkt gelten. Dieser Sampler hier macht eine rühmliche Ausnahme. Natürlich sind alle einschlägigen Ohrwürmer versammelt, aber das in zum Teil hervorragenden, zum Teil raren und vergriffenen Aufnahmen. Da dröhnt Victoria de los Angeles wieder hochtragisch, wie einst 1966, Purcells schmachtende Lamento-Arie „When I am laid in earth“ ab (leider am Ende schlecht abgeblendet). Da schmalzt Sir John Barbirolli das Hallé Orchestra durch den „Valse triste“ von Sibelius, und die Central Band der Royal Air Force stampft durch den Marche funèbre op. 35 von Chopin. Aber es sind auch brandneue Aufnahmen von nicht ganz so evergreen-vernutzten Stücken dabei: etwa Mozarts „Maurerische Trauermusik“ KV 477, 1991 eingespielt von Mariner und der Academy of St. Martin in the Fields. Herzschmerzmusik — für Hörer aller Fakultäten.
JOSÉ CARRERAS
Hollywood Golden Classics. Eastwest 9031-73793-2 1991
Am Anfang ist es nicht zum Aushalten: diese breitwandverhallten Violinenwogen, diese tenorale Hochleistungsphonstärke, dieses rollende RRR, das Vibrato beim „Born free“ und sowieso diese ganze herzzerreißende Belcantokunst, die in Schlagern wie „Over the Rainbow“ oder „The Shadow of your Smile“ irgendwie völlig fehl am Platze scheint. Filmsongs können einfach keine Stimme vertragen, schon gar keine große. Denkt man. Aber schon beim dritten Song wirkt die Droge, und spätestens beim „Moon River“ ist man ganz unweigerlich vollständig bedröhnt. Wonderful. Carreras forever and ever. Plötzlich sieht der Mann auch vorne auf dem Coverfoto ganz unwiderstehlich schnuckelig aus („Hair & Make Up by Bundy & Bundy, Vienna“). Am Ende träumen wir alle himmelhochjauchzend wieder von einer weißen Weihnacht. So, und jetzt das Ganze noch einmal von vorne.Elisabeth Eleonore Bauer
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