■ Scheibengericht: Probierstein
Tschaikowsky, tja, Tschaikowsky. Das ist die große Integrationsfigur der Ernsten Musik, der kleinste gemeinsame Nenner aller Connaisseure und quereinsteigenden Klassikfans. Ein Stilist von Klassikerformat, der wohltemperierte Leidenschaft mit wohldurchdachtem Tonsatz verbindet, der wohlgefällige Artistik mit wohlproportionierter Volkstümlichkeit verschmilzt. Ein brillanter Könner, dem alles zu Gold gerät, woran er Hand anlegt, ein Virtuose der Ausgeglichenheit, ein Hohepriester des Mittelwegs. Und daher allen verhaßt, die das grob Charakteristische gegenüber dem gefällig Hübschen preisen, die die doppelte Negation der einfachen Affirmation vorziehen, die lieber leiden statt genießen.
Diese allzu praktische Polarisierung hat einen Probierstein, denn an Tschaikowskys Klaviertrio op.50 in der Volkstrauertonart a-Moll entzündete sich 1950 der musikalische Esprit von Artur Rubinstein, Jascha Heifetz und Gregor Piatigorsky. Hübsch ist an der Aufnahme gar nichts und nichts harmlos, aber überzeugend alles. Rubinstein schlägt das Klavier, daß es seine Art hat, und wenn die Akkorde auch zuweilen klirren und die ein oder andere Passage nicht ganz deutlich ist – nun, das kommt eben vor, wenn es zur Sache geht. Gewiß, auch Piatigorskys tiefe Cello-Lagen sind nicht immer lupenrein, und selbst Heifetz unterläuft in der Erregung manch schneidend metallischer Ton. So was läßt heute, wo Makellosigkeit das Kriterium für Schallplattenpreise und Publikumsgunst ist, kein Produzent mehr durchgehen. Aber wie plausibel wäre ein Klagegesang, bei dem jede Silbe mit leichter Zunge distinguiert artikuliert ist, wo die Stimme nicht zittert und der Atem unbeschwert geht? Wie ergreifend kann ein technisch perfekter Verzweiflungsausbruch letztlich sein? Hier spielen drei Erzmusiker, die sich in allen Höllen und allen Himmeln schon umgesehen haben, die wissen, daß Risiko sich auszahlt, und die an ihre Grenzen gehen, um Können, Wollen, Wissen und Fühlen im Spiel zusammenzuführen. Unter der Sense des riskierten Mißlingens stellt sich Süße ohne Schwülstigkeit und Ergriffenheit ohne Pathos ein. Hier wird Tschaikowskys chronische Melancholie (Trademark) erträglich, vielleicht weil das Trio mit eigener Ergriffenheit geschrieben ist: Er hat es einem Herzensfreund als Abschiedsgeste ans Grab getragen.
Klaviertrios von Tschaikowsky und Mendelssohn. Rubinstein, Heifetz, Piatigorsky. BMG gd 87768.
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