: Schad’ ums Rad
Von unserer Kontext-Redaktion↓
Weil der Anstand gebietet, nur über die Lebenden schlecht zu sprechen, macht ihn die Todesanzeige zum Ehrenmann. „Dr. Bernd Grimmer hat sich um unser Land in hohem Maße verdient gemacht“, ist hier zu lesen, gedruckt auf den Seiten der „Stuttgarter Zeitungsnachrichten“. Unterzeichnet hat es, stellvertretend für den baden-württembergischen Landtag, dessen grüne Präsidentin Muhterem Aras. Sie lobt den verstorbenen Abgeordneten für Tatkraft und Leidenschaft, mit seinem Fachwissen in Finanzfragen habe er sich zudem die „große Anerkennung der Kolleginnen und Kollegen“ erworben.
Gelegenheiten, nachtragend zu sein, hätte es durchaus gegeben. Grimmer, der für AfD-Verhältnisse als gemäßigt gegolten hat, wetterte gegen „weltfremde Umerziehungsapostel“, nannte die EU ein „überdimensioniertes Freiluftgefängnis“ und stellte Fragen: Als Baden-Württembergs grüner Finanzminister eine Meldeplattform für Steuerbetrug ins Netz stellte, wollte er zum Beispiel wissen, ob (der in Heidelberg geborene und aufgewachsene) Danyal Bayaz mit seinem „Denunzianten-Portal“ die „Bindekräfte unseres Gemeinwesens weiter schwächen“ will – „oder folgt er nur seiner orientalisch-autoritären Prägung?“
Der Abgeordnete empfand es als „Impertinenz, die AfD wider besseren Wissens mit Antisemitismus und Homophobie in Verbindung zu bringen“. Nachdem sich Wolfgang Gedeon, der gerichtsfest als Holocaust-Leugner bezeichnet werden darf, 2016 aus der Landtagsfraktion der AfD zurückziehen musste, gehörte Grimmer allerdings zu dem Kreis, der ihm die Treue hielt und noch Monate nach dem Eklat zusammen mit dem Antisemiten in Pforzheim auftrat. Wenige Wochen vor seinem Tod in Folge einer Covid-19-Infektion befand der wissenschaftspolitische Sprecher der AfD-Fraktion, 71 und ungeimpft: „Das Corona-Regime hierzulande kann nur noch als krank bezeichnet werden.“
Pietät bedeutet, auf all dem nicht herumzureiten. „Unsere besondere Anteilnahme gilt seiner Frau, seinen beiden Kindern und seinen nächsten Angehörigen“, schreibt die Landtagspräsidentin in Trauer um die geschätzte Persönlichkeit.
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Wenn es in Zeiten einer Pandemie mit mutierenden Virusvarianten, bei schwindelerregenden Inflationstendenzen und im Angesicht eines abschmelzenden Apokalypse-Gletschers ein Thema gibt, das um keinen Preis vernachlässigt werden darf, dann ist es, ganz recht, das Stuttgarter Riesenrad auf dem Schlossplatz. In seiner Ansprache für die Weihnachtstage und Neujahr hatte Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) es noch zum „Symbol der Zuversicht, des Aufbruchs und des Optimismus“ erklärt. Und jetzt – wird das Rad scheibchenweise abgebaut. Und Stuttgart steht ohne sein neues Wahrzeichen da wie der Ernie ohne den Bert.
„Eine alte Liebe ist neu erwacht“, „Die Magie der Nostalgie hat Stuttgart verzaubert“, „einen fantastischen Blick aus der Drohnenperspektive erlauben die 40 Gondeln des Riesenrads, das sich (…) unermüdlich an exponierter Stelle vorm Neuen Schloss dreht“ – Sätze, die nicht vom offiziellen Stadtmarketing stammen, sondern mit denen die „Stuttgarter Zeitungsnachrichten“ die identitätsstiftende Attraktion bewerben. Dort hat man das Riesenrad als das Riesenthema erkannt, das es ist, und präsentiert „EXKLUSIV“ investigative Rechercheergebnisse. „Hinter den Kulissen“, erfahren Eingeweihte hier, werde nämlich schon über die Rückkehr des Rades diskutiert. Das wünsche sich nicht nur Frank Nopper für den nächsten Herbst. „Unsere Zeitung hat am Montag auch Finanzminister Danyal Bayaz im Urlaub erreicht“, heißt es. Und? UND?!? „Ich bin offen für eine Wiederholung“, sagt der.
Da bleibt ja eigentlich nur noch eins zu hoffen: Dass der investigative Eifer im Stuttgarter Pressehaus auf möglichst viele Bereiche überspringt, um einen kritischen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Ein Anknüpfungspunkt wäre vielleicht das in der Berichterstattung meist hymnisch, ja fast schon Riesenrad-ähnlich bejubelte Ballet mit seiner Schattenintendanz, nur ein paar Pirouetten vom Schlossplatz entfernt.
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