Satirische Jahresvorschau: Das Jahr, in dem wir keine Wahl haben
Berlin bleibt chaotisch, sei es in Sachen Verkehr, Politik oder Sport. Daran wird sich 2023 nichts ändern, weiß unser Autor. Und der muss es wissen.
Das Jahr 2023 legt gleich gut los. Bereits am Neujahrsmorgen soll es zwischen Rad- und Autofahrern die erste Massenschlägerei um einen Parkplatz gegeben haben. Das ist nur ein Vorgeschmack auf den Ausnahmezustand, der Berlin von nun an jeden Tag erwartet, denn ab dem 1. Januar gilt die neue Parkgebührenordnung. Das Abstellen von Pkws im öffentlichen Straßenland wird teurer, Fahrräder dürfen dort jedoch gratis geparkt werden.
Zu empfehlen ist das allerdings nicht. Denn wie zu erwarten schmeißen die Berliner Autofahrer die auf der Straße abgestellten Räder einfach in die Rabatten. Sie können nichts dafür, das längst genetisch in ihren tiefschwarzen Seelen verankerte Programm aus Rücksichtslosigkeit und Überforderung zwingt sie dazu: Hupen statt Bremsen, Schnauze statt Herz, Hubraum statt Hirn, Tunnel- statt Schulterblick, mit Vollgas durch die Spielstraße, und ein Abbiegevorgang ohne Nötigung einer Radlerin macht keinen Spaß, wozu fährt man denn sonst Auto.
Am 12. Februar platzt die für diesen Tag geplante Wiederholung der Berliner Wahl, weil der TÜV die Rauchmelder in den Wahllokalen nicht abgenommen hat. Egal, dann macht man eben einen neuen.
Ersatzverkehr mit Jarnüscht
Im März wartet Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) mit einer Hiobsbotschaft auf, doch die betrifft nur Leute, die noch irgendwohin wollen: Wegen einer Absenkung des Bezirks Mitte infolge von Bauarbeiten bleiben die U-Bahn-Linien 2, 5, 6 und 8, die S-Bahn sowie der Regionalverkehr voraussichtlich bis zum Jahr 3051 gesperrt. Ach ja, die Bürgersteige auch. Ein Ersatzverkehr mit Jarnüscht ist eingerichtet.
Zunächst möchte man an einen Aprilscherz denken, doch dann verdichten sich die Gerüchte: Die Regierende Franziska Giffey hat ihre Facharbeit im Leistungskurs Erdkunde nicht selbst angefertigt. Die Plattform „FranziPlag“ analysiert: „Endmoränen in der Uckermark“ ist in einer altertümelnden Sprache verfasst. „Die Endmoräne, potzblitz, der Erden Schluckauf wallet …“ Wer, zum Denker, hat das geschrieben?
Und endlich tut sich was in Sachen Klima: Seit sich die Letzte Generation an den Türen der Berliner Sportkneipen anklebt, kocht der Volkszorn hoch. Denn natürlich wollen alle live erleben, wie sich Hertha BSC am 27. Mai mit einer Niederlage in Wolfsburg für immer aus dem Fußballoberhaus verabschiedet.
Nach dem Abpfiff gibt es Tränen auch bei den Gebrauchtspielerhändlern. Für sie versiegt ein Füllhorn: Im Abstiegskampf hat die „Alte Dame“ den Kamin der Hybris mit zuletzt nochmals 2 Milliarden Euros für alte Herren, Wundertüten und Strandfußballer befeuert. Fortan will sich Investor Lars Windhorst seriöseren Geschäften zuwenden – man munkelt von einer Position im Aufsichtsrat von Extinction Rebellion, aber nichts Genaues weiß man nicht.
Provisorischer Räterat
Nach langem Ringen tritt Giffey endlich auch als Bürgermeisterin zurück, denn das mittlerweile aberkannte Abitur wäre eine der Voraussetzungen für den Posten gewesen. Im Netz kursieren Bilder, wie sie in einem Klassenzimmer des Britzer Lotte-Hässlich-OSZ eifrig mit dem Finger schnipst, um das Versäumte nachzuholen.
Ein provisorischer Räterat aus R2G (rot, geimpft, genesen) regiert Berlin bis zur nächsten Wahlwiederholung mit Notverordnungen. Doch dann scheitert auch der Termin am 18. Juni, diesmal hat man vergessen, Wahlzettel drucken zu lassen. „Eine Wahl ohne Zettel ist wie ein Esel ohne Beine“, wusste bereits Solon, einer der Urväter der Demokratie im alten Griechenland.
Erste Rückkehrer aus den Sommerferien spülen eine neue Variante von Sars-CoV-2 in die Stadt. Die Symptome sind meist unauffällig, doch in der Alterskohorte der 102- bis 105-Jährigen eskaliert die Libido in einem Ausmaß, das die bürgerliche Zivilgesellschaft zu zerreißen droht.
Und auch der nächste Wahlversuch wird abgesagt. Gerade noch rechtzeitig fällt auf, dass der angesetzte Termin am 27. August beinah mit dem Geburtstag des von Reichsbürgern, Kreuzlurchen und Tempelschwaflern verehrten Albenkönigs Ulrich kollidiert. Und die möchte man nicht mit der leisesten Reminiszenz an demokratische Features jeglicher Art provozieren. Denn wenn man etwas aus den letzten drei Jahren gelernt hat, dann ist es, selbst die abwegigsten Meinungen als absolut gleichwertig zu verhandeln, sofern sie nur von irgendwelchen 57-jährigen Wolfgünters oder Giselas vertreten werden.
Seltene Schmeißfliegenart
Im September wird auf dem Gelände des BER eine seltene Schmeißfliegenart entdeckt. Der Flugbetrieb wird eingestellt, und bis auf die Toiletten abgerissen. Die Tiere dürfen keinesfalls bei ihrem Paarungstanz, einer Art Taumeltango mit Capoeira-Elementen, gestört werden.
Langsam macht sich Galgenhumor breit. Bonmots wie „Qual der Wahl“ oder „Trauer muss Electra tragen“ kursieren rund ums Rote Rathaus, als auch der Wahltermin am 22. Oktober scheitert. Alles ist perfekt vorbereitet, frisch geölt blitzen die Rauchmelder, bunt leuchten die Wahlunterlagen, kein Gnomenfürst hat auch nur Namenstag. Doch leider hat man vergessen, den Wahlberechtigten Bescheid zu sagen. Bei einer Wahlbeteiligung von null Prozent ist die Wahl leider ungültig.
Im November kommt raus, dass Franziska Giffey in ihrer Grundschulzeit Entschuldigungen gefälscht hat und nachträglich die für das Erreichen des Klassenziels zulässige Fehlstundenzahl überschreitet. Damit wird ihre Rückversetzung in den Kindergarten unvermeidlich. Sie hat aber auch ein Pech! Langsam bekommen sogar ihre größten Gegner Mitleid: „So etwas wünscht man seinem schlimmsten Feind“, sagt der Berliner CDU-Chef Kai Wegner und keckert in hyänenhafter Fake-Empathie, bevor er hinzufügt: „Aber doch nicht seinem allerschlimmsten Feind.“
Weihnachten 2023 wird dafür wieder schön. Es gibt Vanillekipferl und Würstchen mit Kartoffelsalat. Die kommissarische Bürgermeisterin, deren Namen man noch nie gehört hat, hält eine Festtagsrede. Für 2024 stellt sie einen neuen Wahltermin in Aussicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin