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SanssouciVorschlag

■ „Unter Aufsicht“ von Jean Genet im Theater Schokoladen

Abenteuerlich ist schon der Weg ins Theater: er führt durch einen Hinterhof, vorbei an Gerümpel, alten Autos und streunenden Katzen. Von den Wänden des Theaterraums ist der Putz abgeschlagen: so entsteht Kelleratmosphäre, obwohl man sich zu ebener Erde befindet. Ein guter Ort für die Inszenierung von Genets Drama „Unter Aufsicht“ (Regie: Micheal Wolf). Eine Nische, nur wenige Quadratmeter groß, bildet die Bühne. Es ist die Gefängniszelle von Grünauge, Lefranc und Maurice, einem Mörder und zwei Dieben. Utz Krause, glatzköpfig und grobschlächtig, spielt den Mörder Grünauge. Wie ein Blitz durchzuckt ihn die Erinnerung an die eigene Tat, an das kleine Mädchen, das ihm folgte, zu fasziniert von dem Fliederbüschel zwischen seinen Zähnen. „Ich habe alles versucht, um kein Mörder zu werden. Ich habe versucht, ein Hund zu sein, eine Katze, ein Pferd, ein Tiger, ein Tisch, ein Stein. Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe mich verrenkt. Die Leute meinten, ich leide unter Zuckungen. Ich wollte die Zeit zurückdrehen, meine Tat ungeschehen machen, noch einmal leben bis zum Augenblick des Verbrechens. Zurücktauchen in die leichte Luft: mein Leib wollte nicht.“ Nicht Grünauge hat das Verbrechen, das Verbrechen hat ihn gewählt. Schwer und taumelig tanzt Utz Krause im Lichtkegel den Schraubentanz, mit dem er damals die Zeit zurückdrehen wollte. Eine Frauenstimme aus dem Off singt leise ein französisches Chanson. Die Größe seiner Tat, die beide Zellengenossen um seine Gunst buhlen läßt, ist die Absichtslosigkeit und Reinheit, mit der sie sich vollzog. Er ist der Herrscher der Zelle, umgeben von einem Glanz, für dessen Widerschein sich Lefranc und Maurice einen Kampf auf Leben und Tod liefern.

Jörg Zufall gibt den 17jährigen Maurice schwul bis auf die Knochen. Genüßlich läßt er sich vom Wärter (Manfred Mayser) mit dem Gummiknüppel einen runterholen, um, kaum hat der sich abgewendet, mit angewiderter Miene ins Bett zu fallen. Im Laufe des Abends steigert sich sein dämonischer Narzißmus und die Lust an der Bosheit. Unterdrückte Begierde übernimmt immer mehr die Macht über ihn, zwängt den Körper in nuttenhafte Posen, diktiert dem Kopf die Worte, mit denen er, zum Schluß mit überschlagender Stimme, Lefranc provoziert und quält – bis der ihn schließlich erwürgt.

Diesem Lefranc, dem eigentlichen Widerling des Stücks, gehört die besondere Liebe dieser Inszenierung. Gilles Gavois gelingt in dieser Rolle das Kunststück, unterwürfig zu sein, ohne das ihm etwas Schmieriges anhaftet. Tiefgedrückt von der Schmach der eigenen Niedrigkeit, schleudert ihn die Kraft seines Wunsches nach dem großen Glanz gegen die Zellenwände und die Gitterstäbe. Die Verherrlichung der großen Mörder wächst in Gilles Gavois' Spiel zu einer Vision allumfassender Menschenliebe. Aus der zerbrochenen Figur, die auf Erlösung nicht mehr hoffen kann, leuchtet die Kraft der immer Getretenen: „Ich bin stärker als ihr. Mein Unglück kommt von weiter her. Es kommt aus mir selbst.“

Die Reise in die Welt des Bösen birgt ungeahnte Wärme. Wie ein Traum soll das Stück ablaufen, schreibt Genet in seine Bühnenanweisung – und das geschieht an diesem Abend. Gelöste Gesichter gibt es rundherum und begeisterten Applaus. Michaela Schlagenwerth

Theater Schokoladen, Ackerstraße 169/170, 30.10.-2.11. und 6.-9.11. immer um 20.30 Uhr

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