Sanssouci: Vorschlag
■ „Vor dem Ruhestand“ im Fliegenden Theater
„Stell dir vor, wir hätten unseren Feind nicht!“ sagt Vera zu ihrem Bruder, dem Gerichtspräsidenten Rudolf Höller. Der Feind, das ist zuallererst die Schwester Clara, die querschnittsgelähmt vor ihnen im Rollstuhl sitzt. Die drei bilden eine verschworene Familie. Familie zählt, Schicksal auch, vor allem die Erinnerung an einstige Heldentaten. Vera und Rudolf fühlen sich wohl im geschwisterlichen Inzest. Clara, mehr von ihrem Haß als von ihrer Lähmung gefesselt, straft durch Schweigen, ein Ritual, das einmal im Jahr, an Himmlers Geburtstag, seinen Höhepunkt erreicht. Doch diesmal zwingt Rudolf Clara nicht, die KZ-Jacke anzuziehen. Nach den üblichen drei Flaschen Metternich-Sekt stirbt der Gerichtspräsident, kurz vor dem „verdienten Ruhestand“.
Bernhard nennt sein Stück „Eine Komödie von deutscher Seele“. Am Fliegenden Theater hat die Regisseurin Roswitha Kämper keine alten unverbesserlichen Nazis auf die Bühne gestellt. Im Umfeld von Machtergreifungsgedenken und Lichterketten ging es ihr um Kontinuitäten in Deutschland. So stehen keine Dämonen auf der Bühne, sondern normale, ja banale Menschen. Drei Schauspieler zeigen Genauigkeit im Detail: Da ist Renate Richter als Vera, deutsche Mutter und deutsches Mädel in einem, Stimmungskanone und Giftmischerin. Jede Handbewegung sitzt, ob sie dem Bruder den Nacken massiert oder beim Bügeleisen die Temperatur prüft. Da ist Friedhelm Ptok als Rudolf. Nachdem die Schwester einen Akt lang von ihm geschwärmt hat, ist sein Auftreten eher unscheinbar. Hohles Pathos und kleinliches Gequengel wechseln sich ab. Und schließlich Uta Prelle als Clara im Rollstuhl. Grau und verhärmt sitzt sie da. Ein den Abend über präsenter werdendes Schweigen zieht die Blicke der Zuschauer immer dann an, wenn die beiden anderen Fetzen ihres früheren Weltbildes zum besten geben.
Dabei verfallen die Schauspieler nicht in einen manchmal bei Bernhard spürbaren rhythmischen Singsang, sondern verwenden seine Sprache wie Geschosse aus dem Hinterhalt. Militärisch angelegt ist auch die Bühne. An die Wände gedrückte Möbel lassen im Wohnzimmer Platz für ein offenes Schußfeld, in dem sich vor allem Clara in ihrem Rollstuhl bewegen muß. Am Ende dagegen, bei der Feier von Himmlers Geburtstag, beherrscht ein übergroßer Tisch das enge Speisezimmer. Hier wird mit Hilfe eines Fotoalbums Jahr um Jahr das Idyll der Familie zelebriert. Hier kippt die Inszenierung zwischen Komödie und Horror hin und her, ohne der erlösenden Groteske Raum zu geben. Es ist der Höhepunkt an Dichte. Und wenn am Ende der Gerichtspräsident nach einem Herzanfall tot am Boden liegt und Vera versucht, ihm vor Eintreffen des Arztes seine SS-Uniform auszuziehen, entsteht bei den Zuschauern kein Triumph- oder Erleichterungsgefühl, sondern Ekel. Harald Asel
„Vor dem Ruhestand“, Mi.-So. 20 Uhr im Fliegenden Theater
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