Sanssouci: Nachschlag
■ Tschechisches Theater „Gans an der Schnur“ zu Gast in Berlin
„Justine“ Foto: Josef Kratochivil
Donatien Alphonse François Marquis de Sade würde sich amüsieren in seiner Grabesgruft. Ein nacktes Püppchen, an Händen und Füßen aufgehängt, wie süüüß! Dünne Bindfäden spannen Barbie im Rahmen eines Kasperletheaters auf, als solle sie gevierteilt werden. Sadismus pur, unschuldig gemacht.
Die vier Bordelldamen des tschechischen Theaters „Gans an der Schnur“ adaptierten unter der Regie von Peter Scherhaufer de Sades „Justine“ für ihre Zwecke. Ihre Puffmutti kommentiert und läßt die Puppen tanzen, die Mädchen dürfen zur Erbauung der Freier Theater spielen. Im Guckloch des Puppentheaters ist alles erlaubt. Mit wenig Aufwand entsteht in der Bühne auf der Bühne eine seltsame Welt. Das kleine Fenster in der hinteren Bühnenwand fokussiert die Neugier des Zuschauers, als entdecke er durchs Schlüsselloch hier etwas Verbotenes.
Justine, die verfolgte Unschuld, tritt in verschiedenen Ebenen des Stückes auf. Als Hure im Bordell, als unschuldige Justine oder als blondgelocktes Barbiepüppchen im Fenster der Puppenbühne. Mit jeder Ebene wird sie mehr und mehr zum Objekt der Grausamkeiten, zum wehrlosen Spielball der Sadisten. Als Puppe ist an ihr jede Perversion harmlos, gefahrlos, „unschuldig“ vollziehbar. Aber wenn der Priester im Guckkasten dem Püppchen die Beine auseinanderspreizt, um nachzusehen, ob es auch wirklich noch Jungfrau ist, dann wirkt das brutaler, als säße an ihrer Stelle eine Schauspielerin.
In slapstickartiger Geschwindigkeit jagen sich die Episoden, die Gemeinheiten, die Justine über sich ergehen lassen muß. Die vier Huren lösen sich in der Rolle der Justine mit ihrer süßen rosa Daisy-Duck-Schleife im Haar ab. In schnellem Wechsel tauchen sie selber im Guckkasten auf, lüsterne Hände umschmeicheln das Püppchen, greifen unters rosa Röckchen. Sadismus verniedlicht zum Kasperletheater. Was die Abfolge von Justines Qualen mit der Suche nach der Wahrheit zu tun hat, die immer wieder zusammenhanglos eingestreut wird („Die Wahrheit siegt auf jeden Fall“), bleibt nebulös. Als „Parabel auf die neutschechische Wirklichkeit“, wie im Prospekt angekündigt, ist die Geschichte zumindest für Nicht-Tschechen schwer verständlich.
Justine nimmt, vom Blitzschlag verbrannt, ein tragisches Ende. Und die Moral? Sie erfährt nicht gleich von dem Vorfall. „Auf Spitzbergen hält sie Vorlesungen in Ethik.“ Uta von Arnim
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