piwik no script img

SanssouciVorschlag

■ Videothek „Negativeland“ in der Mühsamstraße

Es gibt zwei Sorten Verrückte in dieser Dimension. Die eine sitzt in Anstalten, die andere nicht. Die zweite hat sich die Mauern um die eigene geschlossene Abteilung höchstpersönlich hochgezogen und so gut getarnt, daß es nicht weiter auffällt. Manchmal kommt eine dieser Anstalten auch als Videothek daher, heißt „Negativeland“ und ist die erste und einzige Off-Videothek in Ostberlin. In ihren Mauern findet sich ein verwegenes Sammelsurium. Kunst neben Kitsch, Horror neben Independent-Musik-Videos, Kinderfilme neben deutschem Autorenfilm, Pierre Brice neben Gojko Mitić.

Thomas Hartmann heißt der Anstaltsleiter, 28 Jahre ist er alt. 1.800 Original-Videos nennt er sein eigen, denn das „Negativeland“ ist keine Videothek, wie sie an jeder zweiten Ecke zu finden ist. Das Verleihgeschäft bietet Hartmann vielmehr die Möglichkeit, hemmungslos seiner Sammelleidenschaft zu frönen. 40 bis 50 Videos kommen monatlich hinzu, und inzwischen ernährt die Videothek auch leidlich ihren Mann: „Es ist sowohl Hobby als auch ein Geschäft.“

Angefangen hatte alles „eigentlich ein bißchen blauäugig“ im Sommer 1990, als Hartmann auf die Idee kam, seine auf einer Englandreise frisch begonnene Videosammlung durch den Verleih derselben zu finanzieren. Die ursprüngliche Planung sah eine Kombination mit Videos und Schallplatten vor, und damit wurde auch im September 90 eröffnet. Hartmann teilte sich die beiden Ladenräume in der Mühsamstraße in Friedrichshain, die unter der damals üblichen Umgehung allerlei bürokratischer Hindernisse angemietet werden konnten, mit Marco Kiewitz. Der betrieb in einem Raum den Independent-Plattenladen „Nevergreen“, im zweiten präsentierte Hartmann stolz seine ersten 80 Videos. „Damals hatten wir manchmal vier oder acht Mark Umsatz am Tag, manchmal kam auch gar niemand. Aber das Programm war eigentlich schon dasselbe wie jetzt. Wir hatten ,Clockwork Orange‘, ,Hellraiser‘, ein paar englische Tapes.“

Die Sammlung wuchs ebenso stetig wie der Bekanntheitsgrad des Ladens. Hartmann bot Filme an, die eine normale Videothek, angewiesen auf die großen Verleiher, nicht mehr im aktuellen Programm hat. Die Filmklassiker liefen und laufen, denn „am Anfang war noch viel abzuarbeiten an Filmgeschichte“. Aber nicht jeder Film, den er in seine Sammlung aufnimmt, stößt auf ebensolche Gegenliebe bei seinen Kunden: „Die Mentalität ist unterschiedlich, und du mußt den Geschmack im Osten kennen. Die Aufklärungsrollen laufen bei uns überhaupt nicht, aber dafür geht ein Film wie ,Paganini‘ von Kinski bei uns besser als im Westen. Oder die russischen Filme wie ,Die Kommissarin‘ oder Eisenstein. Schon komisch, daß auch die Filme, die in der DDR schon liefen, immer noch gut gehen.“

Noch kann Hartmann nicht darauf vertrauen, daß dem „Negativeland“ ein ähnlicher Markt erwächst wie den Off-Videotheken im Westteil der Stadt. Seine Horror-Ecke versammelt fast ausschließlich einschlägige Klassiker des Genres, aber schon Freddy Krueger sucht man vergebens. „Am Anfang kamen viele und haben sich gewundert, daß man Horror neben einem Kunstfilm stehen haben kann.“ Das hat sich gelegt, aber immer noch sind Ost-West-Unterschiede nicht zu übersehen: „Nach Fassbinder fragen fast nur noch Ostler.“

Doch auch wenn er selbst keine Verständnisschwierigkeiten mit Westkollegen hat, unterscheidet sich doch die Unternehmensphilosophie. Noch vor Eröffnung der eigenen Videothek ergab sich ein erster Kontakt zum „Videodrom“ in Kreuzberg: „Ich bin mal mit der U-Bahn zuweit gefahren und zufällig da gelandet.“ Angekommen im Himmelreich aus Trash, Horror, Splatter und englischen Originalfassungen, wollten sie ihm, dem Ostler, noch nicht mal ein Werner-Herzog-Video ausleihen. Nach zähen Verhandlungen konnten sich die Macher von „Videodrom“ schließlich durchringen und standen dem Neuunternehmer später dann sogar mit Steuertips und Adressen zur Seite. Doch deren Geschäftsgrundlagen können seiner Meinung nach nicht einfach auf Ostverhältnisse übertragen werden: „Wir können hier wegen der Sprachschwierigkeiten nicht so mit Originalfassungen arbeiten, wie wir eigentlich möchten, und orientieren uns deshalb eher an deutschsprachigen Fassungen. Und bei Horror und Trash ist der Markt hier sowieso nicht groß genug.“

Schnell waren die beiden Ausstellungsräume und das hintere, als Lager dienende Zimmer zu klein geworden. Ende 92 zogen Kiewitz und seine Platten in die Mainzer Straße um, wo „Nevergreen“ seitdem residiert. Geblieben von der ursprünglichen Idee des kombinierten Ladens ist eine große Abteilung mit Musik-Videos. Inzwischen ist schon wieder größtenteils nur Platz für die Buchrücken der Videohüllen. An eine Filiale hat er schon mal gedacht, aber er glaubt, daß noch mehr Off-Videotheken in Ostberlin sich nur das Wasser gegenseitig abgraben würden. Und dann würden echte Lohnkosten anfallen. Bisher stehen seine Frau und ein Freund eher ehrenamtlich vertretungsweise hinter der Theke, vor der die Stammkundschaft auch schon mal länger als nur auf ein Bier verweilt.

Die Leute kommen aus Pankow, natürlich Prenzlauer Berg und selbst von noch weiter her, denn nirgendwo sonst im Osten muß man sich nicht erst durch reihenweise Schrott ärgern, um schlußendlich einen Film zu finden, den man schon immer sehen wollte, wenn man ihn nicht schon längst gesehen hat. Auf Hartmanns Geschmack kann man sich verlassen, auch wenn man manchmal etwas länger warten muß, weil ihm hin und wieder eine Kopie für 200 Mark zu teuer ist, die er ein halbes Jahr später für nur 30 DM bekommen kann.

Natürlich fragt man sich, was einen Menschen zu solch einem finanziellen Himmelfahrtskommando treibt, zu übermäßig viel Arbeit und relativ wenig Verdienst: „Ich mach' lieber meins. Und ich bin Sammler. Ich habe noch zu Ostzeiten jede Menge Bücher gehabt. Allerdings habe ich längst nicht alle gelesen, die ich gekauft habe. Aber meine Videos, die habe ich alle gesehen.“ Thomas Winkler

„Negativeland“, Mühsamstraße 67, Mo.–Sa. von 15–23 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen