Sanssouci: Nachschlag
■ Die Furie des Verschwindens verhinderte Rezension!
Theorien über die Vorgänge des Verschwindens sind ja schon seit einiger Zeit in Mode. So sind uns bekanntlich im Prozeß der Zivilisation in gewisser Weise unsere Körper abhanden gekommen, und wir laufen sozusagen nur noch als unser eigener Schein durch die Gegend. Ein Gedicht von Hans Magnus Enzensberger um eine „Furie des Verschwindens“, die ruhig abwarten kann, weil es der Mehrwert ist, der den Prozeß des Verschwindens in Gang hält, erklärte uns ein Germanistikprofessor so: An der Uni werden so viele Hausarbeiten produziert, daß sie somit einen gewissen Mehrwert bilden, aber gleichzeitig sind sie dadurch nicht mehr wert. Ganz im Gegenteil: Die Qualität verschwindet dadurch, daß zu viele Arbeiten zu gut sind.
Aber nicht nur Qualitäten werden an der Uni zum Verschwinden gebracht, sondern auch Lohnsteuerkarten. Das liegt daran, daß es an der Uni nicht nur zu viele Studenten gibt, die zu viele Hausarbeiten schreiben, sondern auch zuviel Bürokratie. Eine Lohnsteuerkarte muß so viele Büros durchlaufen, daß sie fast zwangsläufig irgendwann auf dem Weg zum Adressaten verlorengeht. In meinem Fall wird vermutet, daß sie bis zu meinem Professor gelangt ist, der sie bloß noch hätte überreichen müssen. Das hat der Professor leider nicht getan und die Folgen für mich sind ganz schön unangenehm. Nicht nur wegen des dringenden Lohnsteuerjahresausgleichs. Gestern mußte der Professor ausgerechnet mich dann anrufen, um mir die Mitteilung zu machen, daß sie auch nicht unter seinen Papierbergen auf dem heimischen Schreibtisch lag. Dabei war ich eigentlich schon aus der Tür, auf dem Weg zu einem Theater, das ich nicht kannte und das ich dann auch (zunächst) nicht gefunden habe. Sollte es sich dem allgemeinen Hang zum Verschwinden angeschlossen haben? Theaterleute sind ja immer sehr modebewußt.
Natürlich war es noch da, aber ich kam zu spät. Und natürlich gab es keinen Nacheinlaß, weil der einzige Zutritt über die Bühne führt. Nachts um ein Uhr rief mich dann ein idiotischer Freund an, um mir von seiner Ex-Freundin vorzuschwärmen. Morgens weckte mich um sechs Uhr ein Mensch, der unter meinem Fenster eine Stunde lang wild entschlossen Schnee schippte. Da hätte ich es schon wissen müssen, ich hätte die Redaktion anrufen und sagen müssen, daß dies ein rabenschwarzer Tag für mich wird. Und daß der Artikel über das Tanztheater Skoronel und ihre neueste Produktion – Koltes „In der Einsamkeit der Baumwollfelder“ – wegen verstärkter Mißgeschickgefahr leider ausfallen muß. Bis die Furie des Verschwindens diesem Tag ein Ende bereitet. Michaela Schlagenwerth
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen