Sanssouci: Vorschlag
■ Charla Drops „Halsüberkopf“ im Theater Unart
Es sind die Tücken des Alltags, von der Wissenschaft schmählich vernachlässigte Phänomene, die das Leben begleiten und nach Erklärungsmodellen verlangen. Immer wieder gilt es beispielsweise, sich mit dem sonderbaren, aber regelmäßigen Verschwinden einzelner Socken, Feuerzeuge und Kugelschreiber zu beschäftigen. Die Frage, ob es eine Parallelwelt gibt, die sich diese Gegenstände einverleibt, ist naheliegend, aber bislang nicht wirklich exploriert. Übergangsschleusen könnten Waschmaschinen, Heizungsrohre oder das Kanalisationsnetz sein, und ein Versuch, die Nahtstellen zu überwinden, brächte endlich Aufschluß über die verzweifelten Mutmaßungen. Die Grotesktänzerin und Clownin Charla Drops hat mit ihrem neuen Programm „Halsüberkopf“ die Reise in die Welt der Rohre angetreten und dabei mehr als verschollene Alltagsgegenstände gefunden.
Als einsamer Klempner Babliwabli verbringt sie ihre Arbeitszeit unter Tage, in einem Geflecht aus Rohren jeden Durchmessers, für deren Instandsetzung und Reinigung sie zuständig ist. Einzige Verbindung nach draußen ist ebenfalls ein Rohr, unsichtbarer Chef und Arbeitsanweisungen gebendes Utensil zugleich. Hier, mitten im totem Material und weit entfernt von der brodelnden Menschensuppe, zwischen Scheuern und Schrauben, findet Herr Babliwabli Erfüllung, Zufriedenheit und Liebe.
„Halsüberkopf“ (Regie: Eva Hass) ist ein Stummfilm über die Möglichkeiten der menschlichen Phantasie, sogar in ein äußerst banales Dasein Glück zu projizieren. Die Rohre, zu Leben erwacht, schenken Herrn Babliwabli Gehör und Liebe, machen aus einer einfachen, unterdrückten Existenz ein Wesen, das über sich selbst hinauswächst und alle Facetten seiner Persönlichkeit auslotet. Charla Drops meistert diese Matamorphosen mit Bravour, ist Rohr unter Rohren, siegesbewußter Kung-Fu-Fighter, herzerweichender Schnulzensänger, Trauerkloß und vieles mehr – und bleibt doch immer ganz nah an der Rohrlegerrolle. Die musikalische Begleitspur, genialer Soundtrack mit raffinierter Geräuschcollage, ist der Inszenierung zweite Haut und wird nur selten von Worten durchbrochen. Komik und Tragik werden von Drops, wie selten zuvor, bis an den Rand gefahren. Das Publikum kann lachen und ist dennoch ergriffen von dieser einfachen, kleinen Figur, die zeigt, daß Drops eine Art weiblicher Chaplin des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist. Anna-Bianca Krause
Heute und morgen sowie am 6. und 8. Mai, jeweils um 20 Uhr im Theater Unart, Oranienstraße 163, Kreuzberg.
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