Sanssouci: Vorschlag
■ Obdachlose spielen „Godot“ in der Brunnenstraße
Fast alles bei dieser Theaterpremiere ist unüblich: Sie beginnt bereits um 18 Uhr und kostet keinen Pfennig Eintritt. Zwei mittelgroße Ventilatoren halten die Zuschauer am Leben, und diese setzen sich aus Szeneleuten, Obdachlosen, Intellektuellen, Sozialhilfeempfängern und Fahrradkurieren zusammen. Regiseur Gunter Seidler ruft: „Georg, machst du bitte das Licht aus!“ und zieht den Vorhang auf. Bevor wir überhaupt eine hitzebedingte Kurzversion von Samuel Becketts „Warten auf Godot“ zu Gesicht bekommen, verlesen Ecki (52), Ingo (30), Holger (28) und Joe (35) Straßenprosa. Mit satten Stimmen und weit aufgerissenen Augen berichten sie aus ihrem Leben als Penner. Nie weinerlich, immer konfrontativ, „Unter Druck“ nennt sich die Theatergruppe, ein Kulturverein von und mit Obdachlosen. Vermutlich nicht ganz zufällig sind sie auf Becketts meistgespieltes Drama gestoßen. Denn wie dessen zwei Protagonisten, Estragon alias Gogo und Wladimir alias Didi, besteht der Alltag von Obdachlosen bekanntermaßen aus Warten. Warten auf eine Mark, auf den Teller Suppe bei der Heilsarmee, auf die rauschhafte Wirkung eines Beaujolais. Es ist nun aber nicht so, daß Gogo und Didi ihren Alltag für eine Stunde auf die Bühne verlegt haben. Vielmehr spielen sie köstliches Off-Theater, typisieren die zwei Wartenden nach eigenem Gutdünken mit erstaunlicher Souveränität. Wenn Didi pinkeln muß, klebt er ein Stück Papier mit der Aufschrift „WC“ an die Jute-Wand, macht psst – und pißt. Gogo ist spürbar genervt vom Warten auf jemanden, den er gar nicht kennt; haßt das viele Reden und schlägt deshalb vor: „Laß uns schweigen, Didi!“ Der Dialog ist aller Funktion entkleidet: er ist nicht Träger einer Handlung, weder einer äußeren noch einer inneren, er bietet keine Deutung der Probleme menschlicher Existenz an. Das einzig Sichere ist, daß beide wissen, daß man wartet. Auf Godot oder die Nacht, gleichviel. Es ist dieses Wissen, das in aller Unsicherheit einen Halt gibt. Und so beschließen die beiden Obdachlosen am Ende ihrer sinnentleerten Tour d'horizon, die Wiese ja nicht zu verlassen, denn Godot könnte morgen kommen. „Und wenn er nicht kommt“, sagt Didi, „können wir uns ja aufhängen“. Thorsten Schmitz
„Warten auf Godot“ noch heute (Sa), 20 Uhr und Sonntag, 19 Uhr, Brunnenstraße 7d, U-Bahn Rosenthaler Platz, Mitte. Am Sonntag wird im Anschluß das Finale der Fußball-WM übertragen.
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