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■ "in camera" - Carl Peter in der Dirty Windows Gallery

So viel scheint festzustehen: In den Jahren zwischen 1924 und 1926 unterrichtete Ludwig Wittgenstein an einer Dorfschule, und zwar im Otterthal, Österreich. Damals soll, wie mehrere ehemalige Schüler berichten, der Volksschullehrer ein Experiment unternommen haben: Gedanken an die Nachwelt via Tinte, Feder und Papier galt es festzuhalten, Wünsche aus der Gegenwart für die Zukunft, geschrieben von Buben, gefaltet, gerollt, in eine leere Weinfalsche gesteckt, nebst einiger Kupfermünzen, die Flaschenpost versiegelt und vergraben, unmittelbar vor der Schule. Was Wittgenstein „eine Nachricht für die Nachwelt“ nannte, würde jahrzehntelang im Sande lagern. Fakt oder Fiktion?

Wittgenstein-Biographen erwähnen die Eingrabung, gelegentlich, beiläufig. Zum Beispiel Konrad Wünsche, der zugleich von erfolglosen Versuchen erzählt, das Kulturgut zu bergen. Gerüchten zufolge soll sie doch ans Tageslicht gekommen sein, die Flasche. Partisanen der österreichischen Resistance scheinen sie ausgehoben zu haben, eher zufällig, im Winter 1944. Die Postille tauchte auf und zugleich auch wieder unter. Entkorkt oder nicht?

Inzwischen ist die Nachrichtenpost erneut erschienen, an unvermuteter Stelle: in einem Schaufenster. „in camera“ nennt der Berliner Künstler Carl Peter seine Installation, konzipiert für die Dirty Windows Gallery im U-Bahnhof Kurfürstendamm. Eine beeindruckend schlichte und zugleich strenge Inszenierung für drei Schaufenster, ein Triptychon, in dessen mittlerer schwarzer Scheibe ein einziges Wort in Spiegelschrift drängt: „Gedankenlesen“. Die Objekte hinter den beiden anderen lassen sich nur durch Sehlöcher erspähen: rechts die Fotokopie eines Wittgenstein-Briefes, links die wächsern versiegelte Flasche, versehen mit dem bescheidenen Hinweis auf das Fundstück.

Von einer alten Österreicherin soll sie stammen, die Flasche, wird gemunkelt. „Gerade der unspektakuläre Rahmen der Präsentation habe das Interesse der Leihgeberin geweckt“ und sei „ganz im Sinne Wittgensteins“. Wahrheit oder Behauptung? Carl Peter beantwortet keine Fragen, sondern stellt sie, stellt sie hin, genau wie die Flasche. Ein kühner Kujau? Ein denkender Künstler? Die Betrachtenden befällt eine seltsame Spannung, die entsteht aus der Leerstelle, die aufklafft zwischen der Ehrfurcht vor dem Original und der Empörung über die Fälschung?

Die Installation „in camera“ hütet sich vor Eindeutigkeiten und setzt auf das Zusammenwirken ihrer Komponenten. Die Objekte eignen sich einen Kontext an, der die Neugier am Original verdrängt und vielschichtige Sinngebungen zuläßt: verkorkt gebliebene Nachrichten – Gedankenlesen –, Wittgensteins brieflicher Wunsch, man möge seine Tagebücher und Manuskripte verbrennen, damit „kein falsches Bild an die Nachwelt“ entstehen und seine Ideen wieder neu erdacht werden könnten.

„in camera“ schlägt zurück auf die Passierenden und deren Kopfwelten. Als Angebot und Aufforderung, die fremden Gedanken zu lesen und sich eigene zu machen. In diesem Sinne folgt Carl Peter durchaus Wittgensteins didaktischer Ansicht, man müsse sich an wichtigen Dingen auch mal den Kopf anstoßen. Der Sprachphilosoph malträtierte die Köpfe seiner Schüler an der Schultafel, der Künstler ermöglicht Denkwilligen den sanften Druck der Schaufensterscheiben. Ganz von selbst findet man schließlich nie etwas. Michaela Lechner

Carl Peter: „in camera“. Dirty Windows Gallery, U-Bahnhof Kurfürstendamm, 2.–31. Juli, zu besichtigen täglich zwischen der ersten und letzten U-Bahn.

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