Sanssouci: Nachschlag
■ „Oz“ und „Ich zähle die Stunden“ im Freien Schauspiel
Wir befinden uns in der letzten Kriegsnacht, teilt eine Frauenstimme aus dem Off mit, bevor das Spiel beginnt. In der Nacht, die als „Die Nacht von Oz“ in die Geschichte eingehen wird. Daß dies eine tröstliche Ankündigung ist, stellt sich erst später heraus. Nach dem anfänglichen Diavortrag vermutet man eher die Apokalypse. Verschwommene Steinwüsten werden da gezeigt, Lager, nur ab und zu — schemenhaft – ein Mensch. Eine ganz und gar nicht schöne neue Welt: alle Staaten befinden sich im Krieg, die Bevölkerung ist Kampfmaterial, das sich in vitro reproduziert. Lieben ist verboten, Lesen ist verboten, Denken sowieso. Wer gegen die Regeln verstößt, wird interniert, und, wenn die „Rückerziehung“ nicht fruchtet, „eliminiert“.
Ende der Landeskunde, jetzt senkt der Autor des Stückes „Oz“, Marco Baliani, den Blick und zeigt Zimmer 412 im Umerziehungslager 7, in dem sich vier Abtrünnige befinden, über deren Schicksal der nächste Tag entscheiden wird. Aber jetzt ist erst diese Nacht, und weil eine Frau dabei ist, die sich des Lesens und Geschichtenerzählens schuldig gemacht hat, und weil diese Frau Dorothy heißt und ausgerechnet einige Seiten des Märchens vom „Zauberer von Oz“ bei sich hat und zu erzählen beginnt, wird diese Nacht die „Nacht von Oz“. Denn Dorothy erzählt nicht nur, sondern beginnt zu spielen, und die Geschichten der Figuren, denen die Dorothy im Märchen begegnet, sind die Geschichten der Mithäftlinge. Und so durchqueren die vier in der Zelle am Ende der Nacht als Mädchen Dorothy, Vogelscheuche, Blechmann und Löwe einen imaginären Fluß, fallen hinein, bespritzen sich mit Wasser und sehen endlich das Smaragdschloß vom Zauberer von Oz, der ihnen helfen wird, die Hexe des Westens zu besiegen: die Geburt der Hoffnung aus dem Geiste der Phantasie.
Das alles wirkt geradezu kindlich einfach. Aber Baliani hat das Parallel-Stück im Detail schlüssig ausgestaltet, und in der Regie von Dietmar Lenz wird die Doppelbödigkeit der Handlung tatsächlich spürbar und wesentlich, da die Realität der Figuren auch auf der Märchenebene stets präsent bleibt. Kirsten Hartung kämpft als Dorothy besessen darum, daß die anderen in ihre Geschichte einsteigen. Sie ringt mit der Resignation wie der Teufel einer verkehrten Welt um – das Glück der Seelen. Sie tobt und fällt in Trance, sie zeigt das Spiel als eine Heimsuchung zum Guten, ist die Oberstimme in dieser Hymne des Theaters auf die existentielle Bedeutung des Theaters. Grandios inszenierter schauspielerischer Höhepunkt ist ein Zweikampf von Hartung mit Robert Mika, der den verbitterten Nick spielt, in Zeitlupe. Auch Imke Dierks als behinderte Marion und John Gordon als ängstlicher Ex-Front-Kämpfer „Löwe“ wechseln so sicher und genau zwischen Realismus und kraftvoll-seligem Zauberspiel, daß in dieser Endzeitparabel von Baliani wirklich glaubhaft wird: die Welt ist veränderbar durch die Kraft der Imagination.
Zurück in der Realität: Robert Mika, Imke Dierks, (versteckt: John Gordon), Kirsten Hartung in „Oz“ Foto: David Baltzer
Vom Allgemeinen zum Speziellen, zum real existierenden Krieg, vom Typischen zum Authentischen, zum Einzelschicksal. Zweiter Teil des Doppelprojekts im Freien Schauspiel ist Stig Dalagers Monolog einer Frau in Sarajevo „Ich zähle die Stunden“. Die deutsche Erstaufführung inszenierte Rüdiger Meyke mit Andrea Bittermann. Auf der Grundlage von Tagebuchaufzeichnungen der 33jährigen kroatischen Ballettänzerin Tatjana Protrka schrieb der dänische Autor einen Text, der die Schrecken des Krieges ebenso referiert wie die Kindheit der Frau und die letzten Tage ihres Zusammenlebens mit Anton, ihrem Mann, der nach draußen ging, um Wasser und Zigaretten zu holen, und nicht wiedergekommen ist.
Ein realistischer Monolog ist eine äußerst fragwürdige dramatische Form. Einer, in diesem Fall: eine, denkt laut, und zwar in geradezu absurd informativer Ausführlichkeit. „Zum wem spreche ich?“ fragt die Frau hier dann auch sehr richtig zu Anfang, und Bittermann malt sich ein Kreidemännchen als Gesprächspartner an die Wand. Einen „Niemand“, den nur die Einsamen kennen, die Verzweifelten. Aber auch das enthebt diesen Monolog nicht der Vertracktheit, ein vertheaterter Lesetext zu sein. Zwischen künstlerischer Allgemeingültigkeit und Betroffenheitstheater schwankt diese Inszenierung denn auch. Bittermann spielt eine starke Frau, die gegen das Erlöschen kämpft und sich – wie Dorothy – eine Geschichte erzählt. Daß es ihre eigene Geschichte ist, ist politisch korrekt und dramaturgisch falsch. Schwierig, hier kunstrichtern zu wollen. Es ist bedrückend, zuweilen peinlich unmittelbar, klischeehaft, dann wieder schlicht entsetzlich.
Betrachtet man das Thema des Doppelprojekts, Überleben im Krieg, als Text, so ist „Ich zähle die Stunden“ ein Punkt, der gleich nach der Überschrift steht, „Oz“ hingegen ein Gedankenstrich am Ende. Petra Kohse
Bis 18.9., Do.–So., 20.30 Uhr „Oz“, 22 Uhr „Ich zähle die Stunden“, Freies Schauspiel, Pflügerstraße 3, Neukölln.
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