Sanssouci: Vorschlag
■ "Spaziergang um Mitternacht": Ein türkischer Lesbenfilm von Atif Yilmaz im Bethanien-Kino
Türkische Kommerzromanzen verspritzen literweise Herzblut. In extralangen Einstellungen halten sie inmitten zahlreicher Nebenhandlungen das Seelenleid ihrer Protagonisten genauestens fest. Erbarmungslos wird der Held/die Heldin mit allen erdenklichen dramaturgischen Kniffen und türkischen Moralvorstellungen in ausweglose Situationen getrieben. Schmalzfetzige Musik tut ihr übriges. Angerührt verläßt man das Kino. Die Konfrontation der Hauptfiguren mit der Konvention bewirkt den subversiven Charakter des Molodrams. Mit „Spaziergang um Mitternacht“ legt Atif Yilmaz eine besonders freibusige und lesbische Variante des Genres vor. Begeisternd schon der Vorspann: Trompete und Klavier liefern sich ein herzzerreißendes Duett, während zwei wohlgeformte Zeichentrickdamen in unterschiedlichen Stellungen ineinander versinken. Die aus Istanbul stammende Ärztin Nilgün wird für ein Jahr aufs Land versetzt, wo ihre strammen Waden die sabbergierigen Blicke sowohl der männlichen wie der weiblichen Bevölkerung auf sich ziehen. Gerne begeben sich die Frauen des Dorfes zur Brustuntersuchung in die Praxis der Doktorin im knallengen Minirock. Während einer Untersuchung des dörflichen Bordells trifft Nilgün auf eine ehemalige Schulfreundin. Schicksalhafte Blicke überfluten die Leinwand. Rückblenden belegen die homoerotischen Sympathien schon während der Kindheit. Schamesröte, Hand-in- Hand-Spaziergänge, Meeresrauschen, eine wunderbare Einstellung des diskret unter dem Minirock hervorgezogenen Höschens – schnell ist der Höhepunkt der aufgefrischten Frauenfreundschaft erreicht.
Eifersüchtige Männer und zurückgewiesene Dorfbewohnerinnen bewirken den Umzug der beiden Freundinnen nach Istanbul. Mit Hilfe reicher Männlichkeit eröffnet Nilgün eine Praxis, während Haava das Eigenheim mit Spitzendeckchen verziert. Durch seine aufrichtige Sympathie und wahre Anteilnahme für die Figuren verliert der Film den szenenweise aufkeimenden Eindruck eines Softpornos. Mit zärtlicher Aufmerksamkeit verfolgt man die unterschiedlichen Sehnsüchte der beiden Protagonistinnen; schmachtet mit ihnen. Die handfeste Konfrontation des gefallenen Engels mit den karrierelüsternen Exzessen ihrer Geliebten führen zum Bruch. Erst in der Einsamkeit erkennt Nilgün ihre Sehnsucht nach Haava – und erkauft sich eine Nacht mit ihr. Kühle Farben und aufsteigende Nebel symbolisieren das erkaltete Herz der Hure. Anke Leweke
„Spaziergang um Mitternacht“, O.m. engl. UT., von Atif Yilmaz, Freiluftkino Bethanien, 11.8. um 21.15 Uhr (nur für Frauen!).
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