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SanssouciNachschlag

■ zum "Somnambulen Scheerbart-Salon" in der Ufa-Fabrik

Klar: die Scheerbartgruppe produzierte ein „neuroliterarisches Doppelindukationshörstück mit zwei Bildspuren in Welturaufführung zu Ehren des Geistes von Paul Scheerbart“. Kommunikationstechnisch heißt das, zwei bis drei Menschen lesen simultan Texte à la Scheerbart aus dem Buch „Nachteule und Nachtrog“ zu Computeranimation auf zwei nebeneinanderstehenden Leinwänden: Wortfetzen aus den Boxen an die Ohren, stereo-mutierende Bilder von vorne. Vier Kanäle laufen gleichzeitig. Und reden wir ganz offen zueinander: Die Zeit zum Channelhopping und irgendwas logisch Ordnen und Verstehen hatten Se nich.

Solltn Se auch nich. Ist nicht im Sinne des enigmatischen Werkes von Paul Scheerbart. Und nicht Sinn des veranstalteten „Somnambulen Salons“ der Scheerbartgruppe. Vielmehr durfte, ja sollte Donnerstag nacht in der Ufa-Fabrik weggenickt werden. Ja, der Zustand der Verwirrung, der mentalen Einweichung, war willkommen, wenn nicht sogar Voraussetzung. „Somnambulisierung“ nennt die Gruppe das.

Scheerbart, 1863 in Danzig geboren, 1915 in Berlin „disinkarniert“ (Zitat Scheerbartgruppe), war ein antirationalistischer multiartistischer Bohèmien, der lange vor Kurt Schwitters das erste Lautgedicht schrieb. Scheerbart wurde „von den meisten Zeitgenossen nicht verstanden“ (Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller).

Der Scheerbartgruppe mit den „Tonmeistern der Gehirnakustik“ Ludovika Helm und Kay Korten und dem „Fußnotisten“ Micky Remann ergeht es auch nicht anders. Denn indem sie zum Overload greift, setzt sie eine gute alte Tradition fort: Am 9.11.1989 soll der Diesseits-Jenseits-Kontakt mit dem Dichter stattgefunden haben, in Form einer Niederkunft des Astralleibes von Scheerbart.

Die Begegnung entlud sich bei dem Trio optisch, akustisch und visionär, virtuell und transzendental zu eben jenem Salon, was hier nur im Stadium des Somnambulen wahrnehmungsgetreu wiedergegeben werden kann: Stutensee-Spöck, Ozonloch, Blau, Sterne, Exkursivision, das Bier in dieser Kneipe ist nicht gut, Bundesgartenschau, bunte Kaleidoskopkonstrukte, kosmische Synthi-Embryonalklänge, ein einmaliger Fall in Oberbayern, ein Kaplan mischte sich ein und ein Grüner aus Essen, ist Übungssache, ick meld mer wieder, Gruß Paule.

Dieser Salon machte erst Wespen ins Ohr, dann ins Sitzfleisch, und überhaupt Lust auf ein Glas Sekt. Die sich Widersetzenden verließen den Raum. Nur die „Weicheier“ waren nach eigenen Angaben fähig. Zum Schlafen. „Wir gehn nich in die epische Breite, wir gehn in die epeleptische Verdünnung, werr ick euch später erklärn.“ Silvia Plahl

Das Buch „Nachteule und Nachtrog“ von der Scheerbartgruppe gibt's bei „Werner Pipers Medienexperimente“, Löhrbach.

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