Sanssouci: Vorschlag
■ Frisur und DäNostalgie für 17,50 Mark bei Herrn Gröhnke
So hat sich Herr Gröhnke, Erich Gröhnke, sein Leben nie vorgestellt. Jeden Morgen, außer montags, mit Bus und U-Bahn und einer Thermoskanne voll Tee von Marienfelde nach Downtown Kreuzberg reisen, das Neonlicht in der Skalitzer Straße 107, Erdgeschoß, anknipsen, die biblische Stimme des Deutschlandfunksprechers auf Zimmerlautstärke drehen – und warten. Warten, daß da wer kommt. Garantiert keiner kommt in der ersten Januarwoche, das weiß er jetzt schon. Herr Gröhnke bedient ausschließlich Geschlechtsgenossen, der Name seines Ladens läßt da keinen Zweifel aufkommen: „Friseur für den Herrn“, steht in abgeblätterten Schreibschriftbuchstaben über der Glasfront. Sein Vater hat hier schon geschnippelt, und weil Herr Gröhnke jr. dann doch nichts Besseres einfiel, tat er es dem Senior gleich. Und schnippelt nun auch, wider Willen und für 17,50 Mark.
Aber er hat sich ja irgendwie auch arrangiert damit, anderer Leute Schuppen von den Schultern zu klopfen und ihnen das Gefühl zu geben: Hier bin ich und schneide und das ganz Ohr. Selbst angesichts der lichtesten Häupter schwärmt er von durchaus vorhandener Haarfülle, man darf mit ihm über alles reden, und er hat wirklich zu allem eine Meinung. Er plappert drauflos ohne Punkt und Komma, regt sich über Birgit Breuels Treuhandsalär von 1,2 Millionen Mark auf und darüber, daß die Oberbaumbrücke den Anwohnern schlaflose Nächte bereitet. Manchmal vergißt er bei aller Wut, daß vor ihm ein Kunde sitzt. Mit der Schere in der Hand fuchtelt Herr Gröhnke vorm Spiegel, und eigentlich sind es immer nur zwei Themen, die den Mann mit dem gepflegten Viertagebart beschäftigen.
Jeden Sommer, den Gott werden läßt, tuckert er mit Frau und Wohnmobil nach Dänemark, seit 20 Jahren nun schon. Und immer findet Herr Gröhnke einen Anlaß, jene vier wichtigsten Wochen im Jahr zu erwähnen. Sei es das dänische Bier, die dänischen Mücken, der dänische Himmel. „So einen gibt es nicht in Berlin“, sagt er. Herr Gröhnke, der in den 20 Jahren kein einziges Wort Dänisch gelernt hat und vermutlich ein Toupet trägt, steigert sich mit gleicher Intensität außerdem noch in die verhunzte Eingangsfront seines Ladens. Im August hatten Handwerker in seiner Abwesenheit eine neue Tür eingebaut, allerdings falsch herum. Wenn man nun nicht ganz geschickt an den Friseurstühlen und dem Stromkasten vorbeibalanciert, rutscht man garantiert auf den Haarbüscheln aus. Ist schon vorgekommen. Gewöhnungsbedürftig findet Herr Gröhnke außerdem das viele Glas, durch das man nun hineingaffen kann. Auf Wunsch seiner Kunden, nicht die Hausbesetzer, sondern die Frührentner, hat er nun einen Lamellenvorhang installiert, Modell Zahnarztpraxis. Wie lange er noch die Gefahr in Kauf zu nehmen bereit ist, Krampfadern zu kriegen, ist ungewiß. Auf jeden Fall wird er der letzte Gröhnke sein, der Schnitte verpaßt. Sein Sohn macht gerade eine Lehre. Bei Coca-Cola. Thorsten Schmitz
Friseur für den Herrn, Skalitzer Straße 107, Telefon 612 40 66.
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