Sanssouci: Nachschlag
■ Trash-Poesie: "Hurengespräche" in der Kulturbrauerei
In der dritten Reihe haben es sich drei Soziologiestudentinnen gemütlich gemacht und lästern apfelbäckig über ihren Doktorvater. Sie hetzen sich ob all der akademischen Trübsal in Rage und merken gar nicht mehr, daß sie doch gekommen sind, um an Altberliner Verruchtheiten zu schnuppern. Ein Mann, ausgerechnet, biegt seinen Kopf um 180 Grad und zischt „Psst!“, und ein letztes Mal noch verdrehen die Studentinnen ihre Augen.
Auf der Bühne vollzieht sich dies wahre Leben genau gleich, wenn auch choreographiert und mit Klaviermusik unterlegt: Sechs Prostituierte pausieren von Blow- und ähnlich gelagerten Jobs, jede darf mal berichten, welches Kindheitstrauma sie auf die Straße geführt hat. Wobei die Maulhuren und Mordsweiber flunkern, schamlos übertreiben, Sentimentalitätsschübe heucheln, Tränen hervorpressen und hysterisch gickeln. „Hurengespräche“ taufte Heinrich Zille sein 1913 unter Pseudonym veröffentlichtes voyeuristisches Prolodrama; ziemlich bald konfiszierten kaiserliche Sprachrichter den sittenwidrigen Band. Heute ist das Stück gern gespielter Off-Stoff.
Gespräche sind es keineswegs, die Helma Fehrmann in der Kulturbrauerei zeigt. Jede Hure monologisiert in diesem Sound aus „janzes“ und „zuville“. Die anderen fünf hängen der Berichterstatterin an den Lippen, Gewürzgurken essend oder Fingerhandschuhe ausbessernd. Was die käuflichen Damen mit falschem Nerz und echtem Dekolleté zum besten geben, ist eine Art antiquierte Christiane F.-Vita: Der Vater und/oder der Bruder haben sie in jungen Jahren sexuell mißbraucht. Das erzählen sie seufzend und schicksalsergeben, und die Stirn des Klavierspielers bleibt vor lauter Mitleid anderthalb Stunden kraus.
Doch präsentieren die Huren sich nicht nur als geknechtete Weibsbilder. Sie haben ihren Beruf so weit verinnerlicht, daß sie mit gewaltigem Selbstbewußtsein darüber berichten können. Lust am Lästern über anatomische männliche Unzulänglichkeiten verbindet sie ebenso wie die am puren Sex. Wobei eine Prise Trash-Poesie noch nie geschadet hat. Einen Schwanz nennen sie „Lebensquell“ und „Freudenspender“ (nur nie „Pinsel“, soweit Zille). Mösen verniedlichen sie zu „Katzenkörbchen“.
Vor lauter Texthörigkeit hat Regisseurin Fehrmann die mithörenden Dirnen leider zu versteinerten, vervefreien Statisten degradiert. Nur wenn sie das Lied über Fürze intonieren, blühen die sozial gefallenen Frauen richtig auf. Und auch die Berliner Schnauze wirkt in einigen Momenten ein bißchen zu auswendig gelernt. Das soll aber, bei Gott!, niemanden davon abhalten, den Klasseweibern selbst aufs Maul zu schauen. Thorsten Schmitz
„Hurengespräche“, 3./4. und 9.–11.2. sowie 3./4. und 7.–11.3., 20.30 Uhr, Kulturbrauerei, alte Kantine, Knaackstr. 97.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen