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SanssouciNachschlag

■ Wall of Diskurs aus HH: „Phänomen“ Blumfeld im Loft

„Ich finde den süß“, sagt die Freundin von Kollege Gerrit Bartels über Jochen Distelmeyer. Und vielleicht ist das der Schlüssel zum „Phänomen“ Blumfeld. Denn normal ist das doch nicht, im völlig verräucherten, ausverkauften Loft zu stehen und von ganz jungen Mädchen angesprochen zu werden: „Hast du mal Feuer?“ Dabei ist laut Distelmeyer doch „jeder geschlossene Raum ein Sarg“ (vor allem wenn darin so exzessiv geraucht wird). Aber das scheinen die jungen Fans von Blumfeld, durchaus keine Grufties, irgendwie nicht schlimm zu finden.

Der Dichter selbst, der sonst schon mal richtig schlimm verzweifelt an der Welt wirkte, scheint souveräner als bei früheren Auftritten. Nicht, daß er gleich direkt zum Publikum sprechen würde, das spricht immer noch eher zu ihm: „Komm in den Alltag“, fordert immer wieder eine fistelige Jungmännerstimme aus den vorderen Reihen. Aber nicht mal durch das gemeine Verlangen nach Helge-Schneider-Liedern („Katzeklo“) läßt sich Distelmeyer aus dem Konzept bringen. War da nicht mal dieses etwas verquaste Wort „Diskurspop“, für das, was Blumfeld angeblich machen?

Der angry young Hamburger (Distelmeyer ist „erst“ 27) scheint sich vernünftigerweise nicht mehr auf seine introvertierten, gleichwohl hochpolitischen Statement-Texte reduzieren zu lassen. Oder sagen wir richtiger: er wirkt ernst wie immer, er steht zu jedem Wort, er vereinigt weiterhin „Stammheim“ mit „Papi“, Marx, sich selber und Freud, alles was ihr wollt, aber: „Merkst du, was ich merke, wenn ich den Output verstärke?“ Er hat den Output, nicht nur mit der letzten, zweiten LP verstärkt. Tendenziell zunehmend, kommt aus seiner Ich-Maschine nicht mehr „nur“ Diskurs raus, sondern auch Sound. Oder hören wir jetzt einfach anders, besser, mehr?

Blumfeld waren zwischendurch mal eben in England auf Tournee. Für diesen „Markt“ aber haben sie nicht etwa – wie es die Toten Hosen einst peinlich vorgemacht haben – Distelmeyers Texte ins Englische übersetzt (was ja auch ein völlig schwachsinniges Unternehmen wäre). Nein, die Anti-German Germans durften bei ihren Englandkonzerten die Erfahrung machen, daß Leute auf ihre Musik abfahren, die die Texte nun wirklich nicht verstehen können. Der Londoner New Musical Express (NME) hatte prompt zu vermelden, Blumfeld hätten „nazikritische“ Songs auf Lager, und verlieh der „deutschen“ Band Blumfeld das Prädikat „Single Of The Week“. Eine Ehre, die für hiesige Bands meist unerreichbar ist.

„Erst“ 27: Der JochenFoto: Roland Owsnitzki

Im Loft schwitzt Distelmeyer sein braunes Rippen-T-Shirt durch, daß es tatsächlich irgendwie sexy wirkt. Er schaut rüber zu Tobias Levin von Cpt. Kirk, der heute abend mitspielt, schwenkt seine Gitarre Richtung Verstärker, koppelt sich rück mit der Welt. Blumfeld ist eine Band mit Zukunft. Das spürt man an diesem Abend, blödes Wort, körperlich. Warum junge Mädchen auf den frühgereiften Distelmeyer stehen, ist trotzdem nicht restlos geklärt. Wenn er weiterhin mehr in sich reinschaut als ins Publikum, dürfte ihn das eigentlich nicht aus der Bahn werfen. Zukunft: Ich-Maschine goes Sex-Maschine?

Aber laß uns nicht über Sex reden ... auch wenn Blumfeld Themenfelder wie Pissen im Stehen, Sex auf dem Küchentisch und Patti Smith einander näherbringen – ohne dabei resignativ in beknackten Vergangenheiten zu versinken. Mixing Pop and Politics, so einfach könnte es sein. Letzte Worte von Distelmeyer: „Blumfeld, tschüs“. Schönes Konzert. Andreas Becker

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