Sanssouci: Vorschlag
■ Experimentelle brasilianische Oper über die Entstehung der weiblichen Kultur im HKW
„Illud Tempus“ heißt: Zeit jetzt und für immer. Wer hat sie schon? In der Kurzatmigkeit unseres Alltags gibt es sie sicher nicht, und wo sie fehlt, wird Leidenschaft durch Leistungsdruck ersetzt, wird das Individuum zum Egoisten, wird Natur zur Kultur. „Illud Tempus“ ist der Titel der experimentellen Oper der brasilianischen Pianistin Jocy de Oliveira, die heute abend noch einmal im Haus der Kulturen der Welt aufgeführt wird. Wer dort hingeht, sollte das musikalische Chaos lieben und Frauen nicht verachten, denn das Chaos ist weiblich. Um dies zu beweisen, hat die Komponistin eine Sprach- und Ton- und Bildcollage gestaltet, die viele Seiten des Weiblichen aufblättert. Es gibt sie, die Frau im Zerrspiegel oder im (!) Kochtopf, natürlich liegt sie auch ausgebreitet und halb entblößt auf dem Boden, selbstverständlich ist sie die Wölfin, die sich den Phallus aus Ton formt, auch möglicherweise Nonne oder unfruchtbare Mutter, die anstatt eines Kindes ein Cello wiegt.
Eine Schauspielerin, Marilena Bibas, setzt die ungezähmte Weiblichkeit in Szene, eine Sopranistin, Gabriela di Geanx, bewegt sich als Domestizierte im engbegrenzten Raum. Diese beiden müssen den Spannungsbogen aufbauen zwischen Natur und Kultur, zwischen der Frau an sich und dem, wie die Gesellschaft die Frau zur Frau macht. Die Schauspielerin verkörpert Natur, die Sängerin Kultur. Die eine – unterstützt durch Schlagwerk und Klarinette – erzeugt Töne, indem sie ihr Kleid verbrennt, indem sie Steine in den übergroßen Kochkessel wirft oder indem sie ihrer Stimme freien Lauf läßt. Die Sängerin dagegen muß sich mit Versatzstücken klassischer Gesangskunst zufriedengeben und dabei versuchen, sich als fühlendes Wesen zu entdecken. Das gelingt ihr nicht ohne die Hilfe der Schauspielerin, die ihr schließlich das Kleid vom Körper reißt. Die Bilder sind ineinander verwoben wie ein geheimnisvolles Muster multipler Realitäten. Darin spiegelt sich eines der großen Anliegen der Komponistin. Sie möchte, daß die Menschen Vielfalt in ihrer Wahrnehmung kultivieren und nicht der Einfalt eines starren Blicks auf den Fernsehschirm folgen. Deshalb wird mit Farben, Bewegungen, Tönen und Effekten nicht gegeizt, und irgendwann stellt sich die Magie ein, nach der Jocy de Oliveira eigentlich sucht.
Rätselhaft bleibt, warum am Ende die Komponistin ihren Wunsch wörtlich nimmt und, als Magierin verkleidet, die „Natur“ auf Bauchhöhe in zwei Teile trennt. Unterkörper und Beine: Erde und Gefühl bleiben auf der Strecke, Oberkörper und Kopf überleben. Die Selbstinszenierung der Komponistin verhilft der Kultur so letztlich auch in „Illud Tempus“ zum Sieg über die Natur. Ist Zeit jetzt und für immer vorbei? Waltraud Schwab
„Illud Tempus“, heute, 20 Uhr, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tiergarten
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