Sanssouci: Nachschlag
■ Sinti und Roma gedachten der Befreiung Buchenwalds
Samstag morgen, Winterfeldtmarkt. Eine Frau in bunten Röcken und Tüchern windet sich durch die Besucherströme. „Deutsch-Marka, bitte. Eine kleine Spende, bitte“, spricht sie jeden einzelnen an und hält ihm ihr Pappschild unters Gesicht. Ihre Augen lachen wie bei einem jungen Mädchen, aber die tiefen Falten in ihrem Gesicht machen sie älter, als sie vermutlich ist. Die Angesprochenen wenden sich ab oder sehen sie befremdet an. Wenige drücken ihr Münzen in die Hand.
Samstag abend, Süd-Ost-Europa-Kultur-Zentrum in Kreuzberg. Der 8. April 1995 ist für die Roma und Sinti in doppelter Hinsicht ein wichtiges Datum. Vor genau 50 Jahren wurde das KZ Buchenwald von den Amerikanern befreit. 26 Jahre später trafen sich an diesem Tag in London die Angehörigen der Roma zu ihrem ersten Kongreß. Der Roma-Philosoph und Lyriker Rajko Djurić erzählt seinen „Brüdern und Schwestern“ und den wenigen deutschen Besuchern eine Geschichte. Der Rom Luis Simon wurde im Zweiten Weltkrieg von Frankreich nach Buchenwald deportiert. Seine Haut, über und über mit Tätowierungen bedeckt, faszinierte einen Lagerkommandanten. Er gab den Befehl, Simon die Haut bei lebendigem Leibe abzuziehen. Sie wurde präpariert und fortan benutzte sie der Lagerkommandant als Tischdecke. Die Tätowierungen waren Zeugnisse des Weges der Roma und Sinti von Indien nach Europa.
Am 5. Februar 1995 wurden im österreichischen Oberwart vier Roma durch eine Bombe getötet, als sie versuchten, ein Schild mit der Aufschrift „Roma zurück nach Indien“ zu entfernen. Einer von ihnen hieß Josef Simon. Djurić läßt die beiden getöteten Simons zusammentreffen. Luis Simon: „Warum bist du ermordet worden?“ Josef Simon: „Ich weiß nicht, weißt du, warum du ermordet wurdest?“ Luis Simon: „Nein, auch nicht. Aber was viel schlimmer ist: Vor uns haben sie unsere Wahrheit getötet. Wenn man einem Volk die Wahrheit wegnimmt, nimmt man ihm den Sinn des Lebens.“
Als die Leiterin des Süd-Ost-Europa-Zentrums, Bosiljka Schedlich, die 1.000jährige Geschichte der Vertreibung der Roma und Sinti erzählt, schweigen die Menschen im vollbesetzten Saal. Eine ältere deutsche Frau zieht verschämt ein Taschentuch aus ihrer Handtasche.
„Wir warten darauf, daß man uns unsere geschichtliche Wahrheit zurückgibt“, sagt Rajko Djurić. Die Wahrheit sei, so Bosiljka Schedlich später, daß Roma und Sinti in keiner Gesellschaft die Möglichkeit erhielten, sich zu integrieren. So entwickelten sie konträre Lebensgewohnheiten, die zum Anlaß genommen wurden, sie ständig wieder auszugrenzen. Auch in den Berliner Heimen, in denen die Roma und Sinti zusammen mit den anderen Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien leben, gestalte sich das Zusammenleben teilweise schwierig. Sie sehe aber Integrierungschancen, weil das Denken bei den Älteren sich wandle. Vor kurzem, so Schedlich, kam ein alter Mann mit vier Jugendlichen in das Zentrum. Er habe gehört, so der Alte, man kümmere sich hier um die Jugendlichen. Er wollte, daß sie Deutsch lernen und einen Ausbildungsplatz bekommen. Elke Eckert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen