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SanssouciVorschlag

■ Film-Dokumentation von Gerd Kroske über den „Bahnhof Brest“ an der russisch-polnischen Grenze

Gleisanlagen in der Nachmittagssonne, auf den Schienen spielende Kinder. Ein Uniformierter verjagt sie, doch kaum hat er sich abgewendet, setzen die Kinder ihr Spiel fort. Erst das laute Schimpfen eines Gleisarbeiters zeigt Wirkung. Wütend kickt der Mann die sorgsam aufgeschichteten Steinchen von der Schiene. Schon die Eingangssequenz von Gerd Kroskes „Bahnhof Brest“ wirft ein Licht auf die postsowjetische Realität: Verunsicherung, Autoritätsverfall und immer wieder der rigide Versuch der Wiederherstellung einer imaginären „Ordnung“ – eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. Auch vor dem russisch-polnischen Grenzbahnhof – hier wechselt die europäische Schienenspurweite auf russische Breitspur – hat die neue Zeit nicht haltgemacht: Schlangen von HändlerInnen an den Übergangsstellen, säckeweise beschlagnahmte, für den Westen bestimmte Ware – Kunstschätze, Drogen sowie Ehrenzeichen der untergegangenen Sowjetunion. In die Gegenrichtung rollen auf endlosen Güterzügen Panzer und Kriegsgerät der abziehenden Sowjettruppen.

Anhand unterschiedlicher Szenen und Eindrücke am Drehort, Ausschnitten aus alten Wochenschauen und Einzelportraits zeichnet der Film ein vielschichtiges Bild der sowjetischen Gesellschaft in Vergangenheit und Gegenwart: der Sowjetsoldat, der in eine ungewisse Zukunft heimkehrt; der Taxifahrer, der vor dem Bahnhof vergeblich auf Fahrgäste wartet; der Historiker, der die Verwahrlosung der unzähligen Kriegsgräber beklagt. Der Bauer, der während des Krieges in NS-Konzentrationslagern für Messerschmitt arbeiten mußte und nach der Befreiung durch die Amerikaner als vermeintlicher US-Spion auf Jahre in sibirischen Lagern verschwand. Wie ein roter Faden zieht sich durch den Film die Geschichte des Kriegsveteranen Sinatow, der, einst ein hochdekorierter Verteidiger der Festung Brest von 1941, sich im Herbst 1992 aus Verzweiflung vor einen Zug warf. „Legt mir meinen Ausweis vom Stadtkomitee in die Tasche“, heißt es in seinem Abschiedsbrief, „die Nachfahren sollen sehen, daß wir einmal Helden waren und nun in Armut sterben.“

Auch die Täter von einst kommen zu Wort: Eine österreichische Reisegruppe ehemaliger Wehrmachtssoldaten besucht den Ort ihres Wirkens vor 42 Jahren: altgewordene Männer, die bis heute nicht begriffen haben, was damals geschehen ist. Pensionäre, die Fotos und Listen von gefallenen Kameraden in die Kamera halten und sich über die russische Reiseleiterin empören, wenn sie von „deutschen Faschisten“ oder gar „Verbrechern“ spricht. Das solle jetzt anders werden, hat man den Männern bei „Intourist“ versichert, die „nicht mehr zeitgemäßen Texte“ sollen umgeschrieben werden. Die russischen Bahnarbeiter in der Umspuranlage, nach dem Grund für die unterschiedlichen Schinenspurweiten befragt, rätseln: Vielleicht aus militärischen Gründen? Oder nur eine Laune von Zar Peter I.? Sicher sind sie sich nur über den Spurunterschied: achteinhalb Zentimeter. So wenig? „Das reicht“, versichern sie, „damit ein Zug entgleist.“ Friedemann Schmidt

„Vokzal – Bahnhof Brest“ von Gerd Kroske, heute bis 23./25.4. im Babylon Mitte, Rosa-Luxemburg-Straße 30, Mitte; ab 27.4. in der Brotfabrik, Prenzlauer Promenade 3, Weißensee

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