Sanssouci: Nachschlag
■ Sinnfresser: Die Puppen des Théatre du Fust bei den Festwochen
„Papa hat mich gebeten, das Theater zu schließen, weil alle kotzen.“ Armes kleines, nettes Marionettchen. Von schrecklichem Würgereiz befallen sind die anderen Figuren sukzessive von der Bühne gekippt. Die Bühne: Ein überdimensionales Regal, in der Horizontale drehbar aufgehängt. Die Figuren: Grobschlächtige Holzmenschen mit angedeuteten Zügen und dicken Nasen. In winzigen Stühlchen disputieren sie darüber, ob es möglich sei, auf Teufel komm raus einen dummen oder intelligenten Gedanken zu fassen, oder ob einer angezogenen Frau immer anzusehen sei, wie sie nackt aussieht. Die merkwürdige Unterhaltung endet in einer wilden Schlägerei. Eben noch Salon, ist das Regal jetzt überfüllte Moskauer Gemeinschaftswohnung. Um 1920 bekommt ein Mann namens Mischin hier seinen nicht vorhandenen Platz zugeteilt. Notgedrungen schlägt er sein Lager zum Ärger der Mitbewohner im Flur auf. Gegen kollektive Trägheit und ausgewucherten Bürokratismus verkündet Mischin niedergeschlagen: „Ich habe gestört, und ich werde stören.“
„J'ai gêné et je gênerai“ heißt auch die Aufführung des Puppentheaters Théatre du Fust aus Montélimar, die im Rahmen der Berliner Festwochen derzeit im Hebbel Theater gastiert. Das Spiel von Emilie Valantin und Jean Sclavis stützt sich auf Daniil Charms kurze Novelle „Mischins Sieg“, obwohl es diesen wie auch jeden anderen denkbaren Rahmen schnell sprengt. „Verdammt, das habe ich metaphorisch gemeint“, brüllt die Erzählermarionette noch zu Anfang, wenn ihre unbedachte Redewendung auf der Bühne augenblicklich in Aktion umgesetzt wird. Doch mit einem radikalen Konzentrat von Wittgensteins „Tractatus logicus philosophicus“ wirft eine Stimme mit russischem Akzent bald allen semantischen Ballast über Bord. Frei flottierend dürfen die Worte endlich tun, was ihnen in den Kram paßt, wo ihnen die Dinge doch ohnehin nicht mehr gehorchen. Da geben sich auf dem Bühnenregal frech ein Dreieck und ein Viereck ein Stelldichein, und die eingeblendete Übertitelung vermeldet unverdrossen: „Nehmen Sie sich diese Fabel zu Herzen, sie wird Ihnen guttun.“ Irgendwann schreit eine Marionettenfrau hilfeheischend nach „guten Regisseuren wie Meyerhold oder Langhoff“. Zu diesem Zeitpunkt streckt das Geschehen seine bedeutungsfressenden Worttentakel schon nach dem Publikum aus. Und kurz bevor aus den Zuschauern kleine weiße Kugeln oder rote Dreiecke werden, wirft sich die Aufführung einer gierigen kleinen Rattenclique zum Fraß vor. Katja Nicodemus
„J'ai gêné et je gênerai“, noch am 5., 7. und 8. 9. im Hebbel Theater, 19.30 Uhr, Stresemannstraße 29, Kreuzberg
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