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■ Unheilvolles Klima: Bilder und Radierungen des russischen Malers Maxim Kantor

Maxim Kantor: „Sänger“ 1993 Foto: Kunsthalle

Grelle Farben, vorherrschend rot und gelb, und spitze Formen prägen die Bilder von Maxim Kantor. Fast immer zeigen sie Menschen, im Zentrum oder über die ganze Bildfläche verteilt. Manchmal als einzelnes Porträt, häufiger in der Gruppe oder als Teil einer Masse. Zu mehreren sind sie sich meist nicht grün, streiten sich und schlagen aufeinander ein, besaufen sich und proben den „Bürgerkrieg“; selbst wenn sie Schach spielen, wird daraus ein „Endspiel“. Nur die Nähe familiärer Beziehung strahlt eine gewisse Friedfertigkeit aus. Die mehrmals auftauchenden nackten Liebenden aber wirken verloren, ihre Körper sind wie ineinander verkeilt, alle Lust scheint ausgetrieben.

Der 1957 in Moskau geborene Maler, Sohn eines angesehenen Kunsthistorikers und seit einigen Jahren auch außerhalb Rußlands bekannt, steht wie wenige in der Tradition einer verbindlichen und wertesetzenden Kunstgeschichte: „Ich will an die Stelle der Dekadenz die Klassik setzen.“ Seine eigene Tradition verbindet ihn vor allem mit dem Expressionismus – weniger dem der Brücke-Künstler als dem ekstatisch-dynamischen eines Meidner oder Felixmüller, der in jüngster Zeit auch im ostdeutschen Neoexpressionismus Parallelen gefunden hat (aber auch Grünwald gehört zu seinen Ahnen).

Das sozialistische Zwangssystem, dessen Zusammenbruch und der neue, unkontrollierte, räuberische Liberalismus haben in Rußland ein unheilvolles Klima geschaffen, in dem das Leben wie ein Fluch erscheint. In den frühen Bildern – noch in gedämpften, herbstlichen Farben – erscheinen die Personen in karger Umgebung wie anonyme Scheintote – egal, ob als Straßenpassanten oder im „Politbüro“. Man findet sie bevorzugt in Wartesälen und Hospitälern, in der Kantine oder der Gemeinschaftswohnung – als Kranke, Krüppel, Sträflinge und mehrmals als „einsame Masse“, die blindlings vorwärtsstürmt. Die Häuser sehen alle gleich aus, gemauerte Monotonie wie Gefängnis oder Kaserne. Intimität, Wärme, Verbundenheit untereinander oder mit der Umgebung fehlen.

In den neunziger Jahren tritt anstelle von Lethargie und stumpfem Leid die unbeherrschte Aktion („Mann mit Messer“), das wilde, lasterhafte Treiben („Festessen der Diebe“) und das wüste Morden („Tod eines Handlungsreisenden“), als seien nicht die Schleusen der Vernunft, sondern die der rücksichtslosen Leidenschaft geöffnet worden. Eine wild gewordene Bäuerin stürzt durch die „Ruinen des Weltreichs“ wie durch Brueghelsche Höllenvisionen, und der „Staat“ erweist sich als Mahlstrom ausgemergelter Gestalten, die endlos um die grimassierenden Großkopferten kreisen – blutrot sind alle beide.

Überhaupt ist es das Rot, das die holzschnittartigen, auch ein wenig an die legendären Rosta-Fenster der Revolution erinnernden Bilder glühen läßt. Ein verzehrendes, verzweifelndes Rot, anklagend wie ein Aufschrei gegen die andauernde Misere, doch ohne einfache Schuldzuweisungen an oben oder unten. Kantors Malerei hat tragische Züge, die sich gleich seiner Themen kontinuierlich durch sein Werk ziehen und dies wie ein fortlaufendes Epos wirken lassen, wobei seine Radierungen wie ein Spiegel die Motive ins intime Schwarzweiß übertragen.

Der schrille, sich fast überschlagende Ton der Bilder, wie auch manche inhaltliche Wiederholung, läßt allerdings das Aufnahmevermögen des Betrachters bei allzu dichter und sorgloser Hängung abstumpfen. So gibt die große Ausstellung in der ehemaligen Kunsthalle zwar einen geballten Überblick (der noch in Rostock, Herning/Dänemark, Pully/Schweiz und Moskau zu sehen sein wird), doch die parallel stattfindende, kabinettartige Ausstellung von zwei Handvoll Gemälden in der Galerie Eva Poll hinterläßt den stärkeren Eindruck. Hier findet man als Ausdruck von Kantors Belesenheit sein gemaltes vollgestopfes Bücherregal, und hier hängen auch seine beunruhigend bizarren Tischstilleben, bemalte Holzreliefs mit Bestecken wie Marterwerkzeugen.

Gibt es Erlösung aus diesem Dasein voller Last und Leid? Trotz christlich-ikonographischer Anspielungen (wer sich aufrichtet und verkündet, das ist Hiob!) – für Kantor liegt der Ausweg beim Menschen selbst, beim Künstler, der sich der Gemeinschaft verpflichtet fühlt. Zeitgenössischen Kollegen wirft Kantor Selbstverliebtheit vor. Er dagegen, nicht frei von Sendungsbewußtsein, fühlt sich als Verteidiger der Schwachen und Entrechteten: Manchmal ist meine Malerei wie eine Peitsche.“ Michael Nungesser

Ehemalige Kunsthalle, Berlin-Charlottenburg, Budapester Str. 24, bis 1. Oktober; Katalog 78 DM. Galerie Poll, Berlin-Tiergarten, Lützowplatz 7, bis 4. Oktober; Katalog 20 DM

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