Sanssouci: Vorschlag
■ Die Chanteuse: Lisa Gerrard in der Passionskirche
Kann alles singen: Lisa Gerrard Foto: Rob Grierson
Wenn ich Musik höre, verirrt sich die Lebensabschnittsbegleiterin meist nur kurz in das kleine Zimmer, das das Finanzamt als mein Büro bezeichnet. Bei Lisa Gerrard ist das anders. Lisa Gerrard, die 15 lange Jahre dem Konzept von Dead Can Dance ein wenig unverdientes Leben einhauchte, indem sie in die erstarrt gediegene Melancholie zum Cocktail-Nippen mit ihrer Stimme ein verwirrendes Element brachte. Eine Stimme, die alles singen kann: Asiatische Melodieführungen waren ihr nicht fremd, dem Mittelalter konnte sie einige nicht so dunkle Seiten abgewinnen, und Volksmusiken aus der ganzen Welt dienten als Steinbruch für kurze Ideensplitter. Bei Dead Can Dance drohte das Zuvielwollen jedoch im Sumpf bloßer Behäbigkeit zu versinken.
Auf ihrer Solo-Platte „The Mirror Pool“ wagt sich Gerrard an Großes und läßt geschehen. Scheitern oder großer Wurf – das liegt ganz im Ohr des Zuhörers. Ob Händels „Largo“, ein Volkslied aus dem Iran oder Eigenkompositionen – alles fügt sich in eine meditative Grundstimmung, aus der ein Ausbruch unmöglich ist. Ob indische Tablas oder ein ganzes Symphonieorchester – einfachste und gewaltigste Klangkörper ordnen sich einem und nur einem melancholischen Prinzip unter. Die Kulturen der Welt als Selbstbedienungsladen für frustrierte Erfolgsmenschen der Industriegesellschaften. Das Ergebnis gefiltert von einer Chanteuse mit Universalitätsanspruch, gereinigt von jedem Authentizitätsproblem und in verdauliche Dosierungen verpackt.
Zu diskutieren, ob man das nun sollte oder nicht, ob der momentane kommerzielle Erfolg von Mönchsgesängen nicht ein ekliges Symptom ist, wäre vielleicht interessant, aber auch müßig. Gerrards Platte ist schlicht schön, manchmal ein intellektuelles Spielchen, aber meist nur ein einziger großer, lieber Waschebausch. Der Lebensabschnittsbegleiterin kam gleich jemand in den Sinn, dem man die Platte würde schenken können. Ich glaube, ich behalte sie doch lieber selbst. Thomas Winkler
Heute, 20 Uhr, Passionskirche, Marheinekeplatz, Kreuzberg
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