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SanssouciVorschlag

■ Skulpturen statt Haribo in H.N. Semjons Kunstkiosk in Zehlendorf

Tagein, tagaus lockt die Versuchung. An jeder Tankstelle, an der Kasse im Supermarkt, am Kiosk der U-Bahn-Station, überall gibt es diese kleinen Konsumgüter zu kaufen, die für ein paar Mark zu haben sind. Ob es die Packung Lucky Strike ist, die man sich doch heute mal verkneifen wollte, oder die Haribo-Colorado-Tüte – die Hand greift wie automatisch zum Übel. Der Künstler H.N. Semjon hat sich 180 dieser Artikel vorgenommen, sie mit gebleichtem Bienenwachs überzogen und in aufwendiger Schnitzarbeit wieder auf ihre ursprüngliche Form reduziert. Die Produktskulpturen stehen ordentlich aufgereiht in der Vitrine des Zehlendorfer Kioskpavillons, der die Plexiglasbox ersetzt, in der Semjon seine Objekte bei Ausstellungen aufbewahrt. Der Kiosk wurde in den fünfziger Jahren erbaut und galt bei den Anwohnern lange als Schandfleck zwischen den schönen Villen aus der Gründerzeit. Jetzt soll er saniert werden und als Zentrum für kulturelle Werbung und Information genutzt werden. Die künstlerische Gestaltung des Kiosks ist sozusagen eine kleine kosmetische Behandlung vor dem großen Lifting.

H. N. Semjon begann 1991 während seines dreijährigen Studienaufenthaltes in New York an den wächsernen Skulpturen zu arbeiten. Im Kiosk ist nur ein kleiner Teil seines Werkes „Unity in difference“ ausgestellt. Alle seine Arbeiten – ob es sich um Fotografien, Gemälde oder Skulpturen handelt – überzieht er mit gebleichtem Bienenwachs, was ihrer Oberfläche eine milchige Transparenz verleiht.

Durch die Wachsschicht schimmern noch die Schriftzüge und knalligen Farben der Produkte, ihnen wird jedoch ihre Aggressivität genommen, der Betrachter gewinnt eine Distanz zum Objekt, die ihn außerhalb der normalen Betrachtungsweise zur Auseinandersetzung mit dem Produkt anregt. Das Produkt gewinnt einen neuen Stellenwert. Es wird veredelt und als Kunstwerk für die Ewigkeit konserviert. H. N. Semjon setzt sich in seiner Arbeit mit der alltäglichen Wahrnehmung auseinander und stellt den Automatismus der menschlichen Reaktion auf die Reize der Werbung in Frage. Ein Besuch bei dem Installationskunstwerk „Kiosk“ läßt vielleicht sogar den eingefleischten Haribo-Konsumenten ein wenig ins Grübeln kommen. Julie Annette Schrader

H. N. Semjons Kiosk. Potsdamer Straße, Ecke Teltower Damm, Zehlendorf

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