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„Sanfte“ Revolutionslenker?

■ Der Brief eines Agenten der tschechoslowakischen Geheimpolizei StB birgt eine interessante Erklärungsvariante der November-Ereignisse in der CSFR

DOKUMENTATION

Die Hintergründe der Ereignisse am 17. November 1989 in Prag sind bis heute nicht ganz geklärt. Als sicher kann nur gelten, daß der brutale Einsatz der Sondereinheiten der Polizei gegen die Studenten, die von der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Demonstration tschechischer Studenten gegen die deutsche Besatzung der Tschechoslowakei zurückkamen, die angestaute Unzufriedenheit mit dem poststalinistischen Jakes -Regime zur Explosion brachte. Wer war aber der Urheber der Polizeiaktion? Wollten die „jungen Wölfe“ um Vasil Mohorita den Polizeieinsatz dazu benutzen, das Regime zu desavouieren und so an die Macht gelangen? Oder wollte der „Statthalter“ von Prag, Stepan, mit dem gleichen Mittel eine dogmatische Wende herbeiführen? Darüber wurde in Prag schon in den ersten Tagen der „sanften Revolution“ viel gemunkelt. Setzte man bewußt auf die hochexplosive Parallele zwischen der schlagenden Gestapo und der SS von 1939 und der „eigenen“ Polizei? Oder ist den Drahtziehern der Aktion diese Parallele einfach entgangen?

Daran, daß die Staatssicherheit ihre Hände im Spiel hatte, zweifelt heute niemand. Inzwischen scheint sogar erwiesen, daß es zwei ihrer jungen Agenten - ein Mann und eine Frau, beide etwa 20jährig - waren, die die Masse der Studenten dazu angeheizt haben, in die Nationalstraße einzubiegen. Einer von ihnen sollte den leblosen Körper unter der Nationalflagge mimen, den einige Augenzeugen gesehen haben. So sollte die Nachricht von einem Toten entstehen oder lanciert werden, die sich später als falsch erwies, als die Massen der Bevölkerung schon in Bewegung waren.

Der Prager Tageszeitung 'Lidove noviny‘ ist vor kurzem ein Brief eines Agenten des tschechoslowakischen Sicherheitsdienstes (StB) zugespielt worden, in dem über die Arbeit und Strategien der immer noch tätigen Organisation berichtet wird. Der Brief des StB-Agenten bringt eine interessante Erklärungsvariante in die Diskussion, und sein Inhalt ist wichtig und aktuell genug, ihn auszugsweise wiederzugeben.

„Die Aktion am 17. November war eine mit Zustimmung der KPTsch von sowjetischen Agenten geplante Provokation. Man ging davon aus, daß man die kompromittierten Mitglieder der Gesellschaft leicht beherrschen kann, die Jugend aber, die noch nicht kopromittiert ist, nur durch Gewaltanwendung eingeschüchtert und gebrochen werden kann. Deswegen wählte man auch den 17. November, weil man mit einer großen Teilnahme der jungen Menschen gerechnet hat. Den sowjetischen Beratern ist hier aber ein Kardinalfehler unterlaufen, weil sie die Mentalität des tschechischen Volkes nicht genug kannten. Was folgte, war die Mobilisierung der ganzen Nation in kürzester Zeit, ein Phänomen, das immer wieder auftritt, wenn sich die tschechische Nation bedroht fühlt. Einer derartigen Massenbewegung kann sich keine Macht widersetzen. Allerdings ist diese Mobilisierung des ganzen Volkes nur von kurzer Dauer. (...) Die tschechoslowakische Staatssicherheit begriff ihre Niederlage und zog sich zurück in den Untergrund. (...) Sie machte nicht die primitiven Fehler wie die Securitate in Rumänien...

...Besonders gefährliche Konfidenten rekrutieren sich aus den Reihen ehemaliger Gegner des Regimes, die bei Verhören oder im Gefängnis gebrochen und dann für die Zusammenarbeit mit der StB (Staatssicherheit) gewonnen wurden...

...Das Agentennetz reichte letztlich bis in die Spitzen von Industrie und Kultur. Das gleiche gilt auch für die Regierung. Man kann sagen, daß sowohl die Partei als auch das Zentralkomitee, von der StB gelenkt wurden.

Die Öffentlichkeit besteht auf der Veröffentlichung der Namen der Konfidenten. (...) Dieser Druck wird auch von der StB miterzeugt, für die die Konfidenten unterer Ränge uninteressant geworden sind. Durch die Veröffentlichung von Namen soll die Öffentlichkeit befriedigt und abgelenkt werden. Die gefährlichsten Agenten können in dieser Zeit fast unbemerkt neue einflußreiche Positionen besetzen, von wo aus sie dann später - nach entsprechenden Instruktionen ihre Tätigkeit wieder aufnehmen können. Die Informationen über dieses Netz der StB befinden sich nicht auf dem Gebiet der CSFR.

...Die frühere direkte Lenkung der Regierung und der Partei wird jetzt in Organisierung 'intelligenter Destruktion‘ umgewandelt, und zwar mit dem Ziel, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu schüren und dadurch die Erneuerung der alten Macht zu erreichen. Die Kräfte aus diesen Strukturen haben durchgesetzt, daß sie bei Versetzungen Anrecht auf leitende Stellen haben. Darunter sind natürlich auch Mitglieder des 'toten Netzes‘, die im gegebenen Augenblick aktiviert werden können.“

In seinem Brief zeichnet der Autor allerdings auch mögliche Gegenstrategien zur Bekämpfung des alten Apparates der Staatssicherheit auf: Weil die Arbeit der Agenten stark ortsgebunden ist, abhängig sowohl von der Kenntnis des Ortes als auch von guten Beziehungen zu wichtigen Stellen in der Industrie und der Verwaltung, empfiehlt es sich, die ehemaligen Mitarbeiter des Innenministeriums und der StB in andere Orte zu versetzen und dadurch die Strukturen durcheinander zu bringen. Auch die heutige Angst der Konfidenten vor der Veröffentlichung ihrer Namen und den entsprechenden Folgen, könnte man zur Zerstörung des Agentennetzes nutzen. Man sollte eine Anlaufstelle einrichten, bei der sich die Agenten unter Wahrung ihrer Anonymität melden können mit Angaben über ihre Verbindungen, ihres Decknamens und ihrer Aufgaben. Durch diese „Massenberichte“ würde das ganze Netz der Staatssicherheit auffliegen und dadurch für den KGB uninteressant werden.

Aus 'Lidove noviny‘ zusammengestellt und übersetzt von Alena Wagnerova.

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