■ Sándor Weöres: Nocturnum
Ich habe es unendlich satt, andauernd
in meinen männlichen Leib geschlossen zu sein,
ich kann seine Gegenwart nie vergessen
und muß im selben Bett mit ihm schlafen,
ich spüre seine Wärme, seine Feuchtigkeit
von den Zehen bis an die Haarwurzeln,
und die Windungen seiner Gedärme,
den männlichen Stumpf, die überflüssigen Brustwarzen,
das Gähnen seines Lungenbeutels,
seinen unbeständigen Herzschlag,
den dumpfen und den scharfen Schmerz,
das Aufblitzen seiner Lust,
seinen Durst, seinen Hunger,
wie er sich füllt und leert, ein Sack,
und was an Emotionen und Ideen in ihm entsteht,
ich muß sie kennen, obwohl es mich nicht interessiert.
In der tierischen, honigartigen Körperwärme
liege ich, in einem dröhnenden, dreckigen Stall.
Ich habe es satt, wenn seine Wachheit plärrt
oder wenn er mangels an Bewußtsein schnarcht,
satt auch das enge Fenster seiner Sinne,
die winzige Bühne seiner Vernunft,
auf der Erinnerung und eingetrichterte Zeichen
Wange an Wange tanzen.
Ich habe es satt ihn zu bemuttern, zu hätscheln,
seinen pechschwarzen Hintern zu wischen,
seiner Pflege Zeit zu opfern
und mit seinem Schädel zu beten;
ich bediene ihn geduldig, unentgeltlich,
obwohl er mich völlig kalt läßt.
Ich bin nicht sein Henker, sondern sein Vormund,
ich werde ihn nicht töten:
irgendwann nimmt er ohnehin sein Ende,
ob friedlich oder qualvoll.
Jeder seiner Glieder, jeder Knorpel
möchte stets fressen und bespringen
und sein gieriges kleines Gehirn
will stets auf neues Wissenswertes stoßen:
doch ich, gefesselt von den Sehnen,
bin eingezwängt in einen Sarg.
Solang er läuft und lebt, bin ich tot,
erst wenn er nicht mehr ist, bin ich frei,
mich zurück in Gott zu flüchten,
dann bin ich von nichts mehr ein Teil
und teile mich nicht mehr mit mir selbst
in leibliche und seelische Bissen,
dann bin ich die uneingeschränkte Fülle,
die unbemerkbare Möglichkeit,
der, der alles in sich schließt
und seinen ganzen Schatz stets teilt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen