Sammelband "Die Krise der SPD": Absturz mit Ansage
Je mehr sie ihren Mitgliedern entgegenkommt, desto unattraktiver könnte die SPD für ihre Wähler werden. Der Band "Die Krise der SPD" schaut sich die Genossen an.
Das Debakel der SPD hat historische Ausmaße und ist in seinen Konsequenzen für die Zukunft der Partei nicht zu übersehen. Der für den bevorstehenden November-Parteitag in Dresden angekündigte Komplettaustausch der Parteispitze wird als zwangsläufig empfunden werden. Aber er wird nicht als die eigentliche Zäsur in Erinnerung bleiben.
Erklärungen für den bitteren Absturz der SPD gibt es viele. Nicht überzeugend sind eilfertige, scheinbar plausible Analysen, die die Misere der SPD auf einzelne Phänomene wie die widersprüchliche Abgrenzung zur Linkspartei, die fehlende Mehrheitsperspektive im Wahlkampf, die unklare strategische Linie, den bis heute nachwirkenden Wortbruch Ypsilantis oder die undankbare, in der eigenen Mitgliedschaft nicht mehr akzeptierte Rolle in der ungeliebten großen Koalition zurückführen. All das sind bestenfalls einzelne Facetten des SPD-Dilemmas.
Für die im Wesentlichen dem linken Spektrum der SPD zuzuordnenden Autoren des noch vor der Bundestagswahl erschienenen Sammelbandes "Die Krise der SPD" ist der Niedergang kein neues Phänomen, sondern Resultat seit langem wirkender Tendenzen. Ein Absturz mit Ansage gewissermaßen. Denn bereits bei den drei Landtagswahlen zwischen 1998 und 2008 hat die SPD zum Beispiel in Hannover die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren. An Warnzeichen hatte es also nicht gefehlt.
Thomas Steg war von 2002 bis 2009 stellvertretender Sprecher der Bundesregierung und zuletzt Berater des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier.
Die Beiträge in dem arg kompilatorischen Sammelband forschen nach den Ursachen für die "politische Repräsentationskrise der SPD". Die Autoren argumentieren keineswegs neu oder spektakulär, ihre Kritik an der Agenda-Politik ist weder überraschend noch wissenschaftlich differenziert. Dafür liefert der Band viele aufschlussreiche sozialempirische Erkenntnisse, die für künftige Kursbestimmungen beachtet und bedacht werden sollten.
Überaus lesenswert ist besonders der Beitrag von Stephan Meise, der die Austrittsbriefe von Mitgliedern der Hannoveraner SPD ausgewertet hat, die zwischen April 2003, also nach der "Agenda-Rede" von Schröder, und April 2004 ihre Parteibücher zurückgaben. Sein Befund ist eindeutig: Die sogenannte Agenda 2010 hat eine tiefe Entfremdung von Teilen der Mitgliederbasis und traditionellen Wählerschaft bewirkt. Das Credo der Agenda-Politik, staatliche Leistungen zu kürzen, soziale Gerechtigkeit durch Chancengerechtigkeit zu ersetzen, Marktgesetze walten zu lassen und mehr Ungleichheit hinzunehmen, sei als Kultur- und Traditionsbruch empfunden worden. So unterschiedlich die Austritte im Einzelnen auch begründet worden sind, gelingt es Meise gleichwohl, eine Typologie der Ausgetretenen zu entwickeln. Er unterscheidet die meist akademisch ausgebildeten "Gehobenen Linken" von den "Technokratisch-Konservativen" mit tradiertem Sozialstaatsverständnis. Die "Anspruchsvoll-Modernen" aus den höher qualifizierten Arbeitnehmermilieus stehen da neben der leistungsorientierten "Integrativen Arbeitnehmer-Mitte" mit Facharbeiterhintergrund. Meise identifiziert aber auch die "Konservativen und Verbitterten", die sich nach einem arbeitsamen und asketischen Leben um den sozialen Aufstieg betrogen fühlen, und die bei weitem größte Austrittsgruppe der "sozialdemokratischen Urgesteine" unter den "Abgehängten Älteren".
Viele Mitglieder und Sympathisanten der SPD haben bis heute keinen Frieden mit der Politik von neuer Mitte und Agenda-Sozialreformen gemacht, weil diese Politik diametral zu ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit, fairer Gesellschaft und solidarischem Sozialmodell steht. Letztlich, so formuliert Heiko Geiling den Tenor des Sammelbandes, sei der SPD "die normative Zukunftsperspektive einer sozial gerechten Gesellschaft abhandengekommen". In der Parteienkonkurrenz ist es für die SPD tatsächlich von existenzieller Bedeutung, über ein zeitgemäßes, überzeugendes Leitbild von sozialer Gerechtigkeit zu verfügen. Doch sind Zweifel erlaubt, ob dieses Leitbild bereits aus einer bloßen Revision der Agenda-Politik resultiert. Die Krise der SPD ist komplexer, die Antworten müssen differenzierter ausfallen.
Für die SPD ist Inventur statt Remedur angezeigt. An den Grundüberzeugungen der eigenen Mitglieder vorbei wird keine Führung mehr agieren können. An den Erwartungen der Bevölkerung vorbei lassen sich keine Wahlen gewinnen. Je mehr aber die Mitglieder mit ihrer SPD wieder zufrieden sind, desto unattraktiver könnte die SPD für weite Teile der Bevölkerung werden.
Auf die neue Partei- und Fraktionsführung wartet viel Arbeit. Die Debatte über die Zukunft der SPD, ja der politischen Linken in Deutschland hat begonnen. Der Sammelband "Die Krise der SPD" ist ein prononcierter Beitrag in dieser Debatte. In ihm wird die Kernfrage für die weitere Entwicklung der SPD gestellt: Welche sozialen Interessen will und soll die älteste Partei in Deutschland künftig eigentlich vertreten?
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