■ SURFBRETT: Der virtuelle Rudolf Steiner
Er sieht aus, als kenne er sich aus: Neugierig blickt der 18jährige Rudolf Steiner aus dem World Wide Web. Das Foto aus dem Jahre 1879 liegt auf einem Server in den USA (http://gopher.c4systm.com:8070/0/ steiner/pictures/stei1879.htm). Aber den Anhängern seiner Anthroposophie ist der Mann im Netz suspekt: Was macht der da? Und was macht das Netz mit ihm?
Mit Sorge warnte letztes Wochenende der Bremer Medienwissenschaftler Heinz Buddemeier auf einem Symposium der Anthroposophischen Gesellschaft in Trier: „Während menschliche Beziehungen in der wirklichen Welt immer problematischer werden, herrscht in der virtuellen Welt Aufbruchstimmung.“ Das Leben im Netz sei so einfach, soziale Fähigkeiten könnten aber nur in der wirklichen Welt geübt werden. Vielleicht hätte Buddemeier sich aber über die lilafarbene Homepage des Steiner-Archives (http:// gopher.c4systm.com/steiner/) gefreut. Zusammenfassungen von Steiner-Texten, das Dornacher Goetheanum und amerikanische Waldorfschulen vierfarbig. Unter http.//www.io.com/lefty/Human_ Future.html wird für kooperative Wirtschaftspolitik, die Erziehung zur Freiheit und für alternativ-anthroposophische Presse geworben, und mit etwas Geduld kann man unter „http://www.goetheanum .ch“ auch einige Seiten über Naturwissenschaft und Veranstaltungen der ehrwürdigen Goetheanum-Gesellschaft studieren. Deren Suchtexpertin, Felicitas Vogt, will die Technik akzeptieren, „wenn sie uns hilft, Toleranz zu entwickeln“. Rainer Patzlaff, Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik in Stuttgart, hofft sogar, daß sich im Internet der „egozentrierte“ Mensch wieder zu „wahrnehmendem und offenem Leben“ hinwenden könne.
Wer an übersinnliche Welten glaubt, muß fasziniert sein von einer Realität, die sich über Grenzen von Raum und Zeit hinwegzusetzen scheint, doch unter der anthroposophischen Lehrer- und Elternschaft herrscht Unmut: Wer soll die Kinder davor schützen, wenn nicht die Waldorfschule? Und warum ist die Technik immer schneller als die Waldorf-Pädagogik? Der Dortmunder Informatikprofessor und Anthroposoph Horst Wedde weiß es auch nicht: „Wir werden das alle erleiden müssen“, seufzte er in Trier. „Wir werden lernen müssen, ein Problem von allen Seiten zu betrachten.“ Deswegen sei die Computertechnologie wichtig für den Seelenbildungsprozeß der Menschheit – Wedde experimentiert inzwischen mit Computerunterricht in Waldorfschulen. Karsten König
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen