STRASSENBEKANNTSCHAFT : Eine Frage der Macht
Ich laufe die Friedrichstraße mit schnellen, entschlossenen Schritten entlang. Kurz vor der Kreuzung Unter den Linden trifft mein Blick auf die dunkelbraunen Augen eines Mannes von schmaler Statur und mit schwarzen Haaren. Er dreht sich um, ich drehe mich um. Wir tauschen einen zweiten Blick, er winkt mich heran. Hm, denke ich, die Ampel steht auf Rot, warum nicht. Er stellt sich mit Hamit oder Hamir vor, so genau habe ich den Namen nicht verstanden, er sei Maler und komme aus dem Iran. „Du siehst aus wie eine starke Frau“, sagt er. „Würdest du mir Modell sitzen?“ Iran, stark, Modell. Oha. Statt Farbe und Staffelei sehe ich ein geheimes Atomversuchslabor vor mir. Er erzählt, dass er für eine Vernissage noch Unterstützung bräuchte, und lächelt schüchtern. Meine Neugierde lässt mich den Vorschlag machen, einen schnellen Espresso zu trinken.
In einer Pizzeria um die Ecke zieht er ein Faltblatt einer Berliner Galerie aus seinem Stoffbeutel, in dem einige bunte Bleistiftzeichnungen von ihm abgebildet sind. Sie sind sehr abstrakt, haben Titel wie „Fünfarmiger Mann“, und ich kann nicht viel damit anfangen. Also erkundige ich mich nach der Vernissage. „Es geht um Macht“, erklärt er. Oha, denke ich wieder, gleich platzt die Bombe. „Es geht auch um Macht zwischen Männern und Frauen“, fügt er hinzu. Jetzt will ich es genauer wissen.
Bereitwillig gibt der Iraner Auskunft. „Bei der Vernissage liegt ein Mann unten und eine Frau oben und sie spuckt ihm in den Mund.“ Er schaut mich dabei an, dass ich keinen Zweifel habe: Er ist der Mann, der unten liegt. Unbehagen macht sich in mir breit. Ich denke an den Iran, der normalerweise spuckt, nämlich große Töne. „Tut mir leid“, sage ich, „das kann ich nicht.“ Ich wünsche ihm noch viel Erfolg und setze meinen Weg auf der Friedrichstraße mit schnellen, entschlossenen Schritten fort.
BARBARA BOLLWAHN