STÖRFALL IN SCHWEDEN: EIN GAU À LA TSCHERNOBYL IST JEDERZEIT MÖGLICH : Forsmark ist überall
Erinnern wir uns an Tschernobyl. Kaum hatte sich die Katastrophe in der Ukraine ereignet, waren die Medien voll von Unregelmäßigkeiten in den Atomkraftwerken der Welt: hier ein Problem mit der Kühlung, dort ein ausgefallenes Steuerungselement, dann sogar mal eine Notabschaltung. Die Meldungen häuften sich, als habe der GAU auf magische Weise viele kleine Störfälle ausgelöst.
Dabei müsste es schon metaphysisch zugegangen sein, wenn ein Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen bestanden hätte. Also doch eher Zufall? Eine statistische Häufung? Nein, auch das ist auszuschließen. Vielmehr griffen durch den GAU sensibilisierte Aufsichtsbehörden, Politiker und nicht zuletzt auch Medien im Frühsommer 1986 jede kleine Unregelmäßigkeit in der Atomwirtschaft auf. Störfälle, die zuvor lediglich in den Logbüchern der Reaktoren aufgetaucht waren, schafften es nun auf die Titelseiten.
Heute liegt Tschernobyl 20 Jahre zurück – und die öffentliche Wahrnehmung ist ins genaue Gegenteil umgeschlagen. Da steht das schwedische AKW Forsmark nur Sekunden vor einer Kernschmelze – und die großen Zeitungen Schwedens verschlafen das Ereignis kollektiv. Die meisten deutschen übrigens auch. Nie zuvor wurde so offenkundig, dass die Sensibilität der Menschen gegenüber der Atomkraft längst der Gleichgültigkeit gewichen ist. Das ist in Schweden, wo ebenfalls formal der Atomausstieg beschlossen wurde, nicht anders als in Deutschland. Die eine Seite sieht sich mit dem Ausstiegsbeschluss am Ziel und setzt sich zur Ruhe. Die andere träumt laut von neuen, supersicheren Reaktoren. Gemeinsam erwecken sie den Eindruck, die Zukunft sei bestens geregelt.
Dass in Wahrheit weltweit Reaktoren massiv altern und von Jahr zu Jahr die Risiken weiterer GAUs zunehmen, geht dabei unter. Schweden hat nun gezeigt, dass wir die Augen vor weiter bestehenden Risiken nicht verschließen dürfen. Nur Sekunden trennten den Reaktor Forsmark von einem zweiten Tschernobyl. Das müsste eigentlich reichen, um dem herrschenden öffentlichen Phlegma ein Ende zu setzen. BERNWARD JANZING