STEFAN REINECKE ÜBER DIE 30-STUNDEN-WOCHE : Das falsche Versprechen
Wahrscheinlich war Flexibilisierung der Arbeitszeiten mal ein schönes Versprechen. Eine Verheißung für übernächtigte Eltern und für all die Ausgebrannten, die die verdichtete Arbeitswelt produziert. Und es gibt ja immer eine paar Vorzeigebetriebe, in denen Gleitzeit oder modulare Arbeitszeit gut funktionieren. Die Zauberwörter individueller Arbeitszeitsorganisation, die man in soziologischen Fachzeitschriften und Modemagazinen findet, heißen Work-Life-Balance, Sabbatical und Downshifting. Es sind Versprechen, dass jeder und jede nach eigener Fasson seine Arbeitszeit regulieren kann.
Dieses Konzept ist aufs Ganze gesehen gescheitert. Arbeit ist noch ungleicher verteilt als früher. Es gibt viele, die nur Teilzeitjobs haben, aber mehr arbeiten würden – und auf der anderen Seite eine wachsende Gruppe von oft gut bezahlten Workaholics, die auf den Zustand der Erschöpfung zusteuert. Flexibilisierung ist allzu oft nur eine camouflierende Umschreibung für Arbeitnehmer im Stand-by-Modus. Die Idee, dass Arbeitszeit im individualisierten Kapitalismus individuell fair ausgehandelt werden kann, ist ein falsches Versprechen. Arbeitszeit ist kein privates Thema.
Eine Initiative hat nun eine 30-Stunden-Woche gefordert – und viel Kritik geerntet. Ein Rückfall in die 80er Jahre, vor dem großen Globalisierungsschub von 1990, heißt es. Unrealistisch, sagen Unternehmerverbände. Manche linken Keynesianer halten das Ganze für Traumtänzerei. Auch Arbeitnehmer sind skeptisch.
Es stimmt – irgendwie wirkt die 30-Stunden-Woche uncool, sie riecht nach Gängelung, Zwang, Gewerkschaft. Wir haben die Vorschriften der Kontrollgesellschaft hinter uns gelassen. Nun misstrauen wir kollektiven Regeln, weil sie die Selbstverwirklichung einschränken könnten. Aber das ist eine Täuschung. Es ist nicht unrealistisch, Arbeitszeit wieder stärker kollektiv zu begrenzen. Unrealistisch ist die Idee, kleinteilig flexibel Arbeitszeiten auszuhandeln.
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