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■ STADTMITTEZwischen Scham und Schamlosigkeit

Zwischen Scham und Schamlosigkeit

Ich hörte, bei einem zum Jahresende abzuschaltenden Rundfunksender wurde den Mitarbeitern die Entscheidung über Entlassung oder Neueinstellung auf folgende Weise mitgeteilt: In einem Raum stand ein Telefon auf einem Tisch. Die in einer Schlange vor dem Raum stehenden Mitarbeiter hatten einzeln in den Raum zu treten und wurden über dieses Telefon mit der »Zentrale« in einem der Altbundesländer verbunden. Danach hatten sie wieder an der Schlange ihrer wartenden Kollegen vorbeizugehen und dann die Freiheit, sich ihre Gefühle anmerken zu lassen oder nicht.

Mein erster Gedanke war: wieder dieses Fehlen von Würde und Anstand. Dann kam langsam Wut, darunter aber und eigentlich viel durchdringender und existentieller Scham. Ich schämte mich für beide Seiten: für die Seite, die es nötig hat und es überhaupt fertigbringt, so mit Neubürgern umzugehen, und für die Neubürger, die brav in der Schlange stehen und nicht aufbegehren.

Die Entwürdigung in dieser Situation liegt offen zutage. Der West- Zwilling hat die größere ökonomische Macht, er hat die Macht, den Ost-Zwilling zu entlassen. Die Schlagwörter von »ökonomischer Effizienz« und »ökonomischer Notwendigkeit« ziehen eine bestimmte Art von Beziehungsgestaltung nach sich, in der das Machtgefälle von West nach Ost einem sozusagen mit dem »nackten Hintern ins Gesicht« springt. Gleichzeitig aber kommt es nicht dazu, daß der West-Zwilling dies dem Ost-Zwilling wirklich ins Gesicht hinein sagt — es scheint ihm peinlich zu sein. Denn er weiß irgendwie, daß er diese Macht nicht nur durch eigenen Verdienst erworben hat. Sie ist ihm zugefallen, durch Zufall lebte er nach dem Krieg in dem Teil des Landes, der — mit Hilfe der westlichen Besatzungsmächte — ökonomisch weitaus effizienter war und sowohl reicher als auch demokratischer wurde — und der Umbruch in der DDR ist auch nicht das Ergebnis seines Handelns. West- Zwilling weiß außerdem, daß er Ost- Zwilling über Jahre vergessen hatte, ihn innerlich verlassen hatte.

Zwilling West fühlt sich deswegen schuldig und ist auch beschämt — aber dies ist gut verdrängt. Es kommt in der Situation einer telefonischen Entlassung nur durch die vorgeführten Abwehrformen, die Maskierungen von Schuld und Scham zum Ausdruck. Zwilling West verbirgt sich, hinter dem Telefon und hinter der »Zentrale«. er ist weder eine Person noch ein Gesicht. Er depersonalisiert sich. Diese Abwehrmechanismen gegen eigene Schuld und Scham kommen jetzt in den »West«-Medien besonders zur Wirkung. Anders kann ich mir die emotionale Wucht der Schuldzuweisungen an die ehemaligen DDR-Bürger und die dabei waltende Schamlosigkeit nicht erklären (Schamlosigkeit als eine Reaktionsbildung gegen Scham). Um sich den wirklich ekligen Gefühlen der Schuld und der Scham nicht aussetzen zu müssen, wird der Spieß herumgedreht, Spott und Verhöhnung, die Erniedrigung des Ost-Zwillings setzt ein. Die Opfer sollen sich endlich und gründlichst schämen für diesen ganzen Dreck und diese ganze Zurückgebliebenheit. Ich leugne nicht, daß da wirklich sehr viel Dreck war und ist. Ich bezweifle aber, daß man auf diese Weise mit ihm fertigwerden kann. Erneute Entwürdigung, die öffentliche Zurschaustellung des verdreckten Schuldigen, führt nicht zu mehr Selbstoffenheit und Selbsterkenntnis.

Der Ost-Zwilling in dieser Schlange empfindet die Entwürdigung durchaus. Er hat auch Wut, die sich aber gleichzeitig mit Angst mischt, die Anstellung nicht zu bekommen. Er empfindet Scham — unverdrängt, Scham über die Bloßstellung, was man schon wieder mit ihm machen kann, und natürlich Scham darüber, was er in den DDR-Jahren in mehr oder weniger großem Ausmaß mit sich machen ließ oder selbst getan hat. Und gerade dies hält ihn ab, sich zu wehren: Er meint, die Demütigung auch zu verdienen. Er fühlt: Ich bin nicht liebenswert, und die Art, wie man mich behandelt, geschieht mir ganz recht. Er ist der ungeliebte und erniedrigte Zwilling, der die erneute Demütigung provoziert. Oder er muß dieses Gefühl des eigenen Liebesunwertes stark abwehren und wird derjenige, der sich bei den neuen Pflegeeltern schamlos anschmiert und sich dreimal bedankt, daß er mit am Tisch sitzen darf. Beides Verhaltensweisen, die nur weitere Verachtung seines West- Zwillings heraufbeschwören. Eine Spirale von Schuld, Demütigung, wehrloser Depression oder schamloser Neuanpassung auf der einen Seite und von Verachtung, Aktivismus und Großmannssucht auf der anderen. Aber was wir brauchen für ein gegenseitiges Verstehn, für das gemeinsame Ansehen von Schuld und Scham, ist Kreativität, innere Integrität und Selbstloyalität und — wenn Sie mir dieses Pathos verzeihen — Liebe. Diese Eigenschaften aber scheinen uns völlig abhanden gekommen zu sein.

Annette Simon ist Fachpsychologin der Medizin und Psychotherapeutin. In der Stadtmitte schreiben Persönlichkeiten zu den Problemen der zusammenwachsenden Stadt.

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