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Archiv-Artikel

STADTGESPRÄCH Von der Provinz lernen

DIE STADT BRÜNN ENTSCHULDIGT SICH FÜR DEN TODESMARSCH DER DEUTSCHEN IM MAI 1945

Brünn ist Tschechiens zweitgrößte Stadt. In Prag gehört es allerdings zum guten Ton, Brünn müde als „die letzte große Kurve vor Wien“ zu belächeln. Ansonsten existiert die Stadt für Prager eigentlich gar nicht. Provinz halt.

Doch dieser Tage ist Brünn nicht nur in Prag, sondern in ganz Tschechien in aller Munde. Die Brünner Stadtführung hat beschlossen, ein bisschen Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Und das gefällt nicht jedem. Mit einer offiziellen Erklärung hat der Brünner Stadtrat vor Kurzem ein dunkles Kapitel der Stadt wieder beleuchtet: den Brünner Todesmarsch. Er gilt als ein besonders ekelhaftes Kapitel der sogenannten Wilden Vertreibung.

Es war der 31. Mai 1945, der Fronleichnamstag, als alle verbliebenen deutschen Bewohner Brünns zusammengetrieben wurden. Vor allem Frauen, kleine Kinder und alte Menschen. Vor dem Krieg war rund ein Fünftel der alteingesessenen Brünner deutschsprachig gewesen. Die Männer waren entweder gefallen, gefangen oder interniert. Wehrmachtsoldaten oder Nazis waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Stadt, war sie doch einen guten Monat zuvor von der Roten Armee besetzt worden.

Es waren dann vor allem auch frühere Nazi-Kollaborateure, wie Bedich Novotný, die hinter dem Appell an die Deutschen standen. Novotný hatte unter den Deutschen mit der Gestapo zusammengearbeitet. Jetzt musste er den Sowjets beweisen, wie sehr er Deutsch verabscheute.

Die 27.000, die nach Kriegsende in Brünn geblieben waren, kamen gerade recht. Arbeiter der Brünner Waffenwerke, die für die deutsche Kriegsindustrie geschuftet hatten, waren willige Helfer. Mit der Vertreibung der Deutschen konnten sie sich nicht nur reinwaschen, sondern sich auch deren Wohnungen aneignen.

Nachdem die 27.000 Brünner Deutschen zusammengetrieben waren, wurden sie von den Arbeitern und Mitgliedern der sogenannten Revolutionären Garden aus der Stadt eskortiert. Ziel war Österreich. Doch da machte man die Grenzen zu. Die Zahl der Opfer ist bis heute unbekannt. Lange hieß es, rund 1.700 Menschen seien an Erschöpfung und Typhus gestorben. Neuere Schätzungen sprechen von bis zu 5.200 Opfern. Zeitzeugen berichten von schreienden Säuglingen, die von den tschechischen Garden in den Dreck geworfen wurden. Václav Havel hatte die Auswüchse der Wilden Vertreibung als „Bazillus des Nazismus“ bezeichnet, der nach Kriegende auch die Tschechen angesteckt hätte.

Das Brünner Bedauern hat in Tschechien einiges an Schnaufen hervorgerufen. Allen voran bei Vizesenatspräsident Zdenek Skromach. „Alles Kollaborateure“, fauchte er per Facebook in Richtung Brünner Stadtrat. Weder Skromach noch sein sozialdemokratischer Parteifreund, Kreishauptmann Hasek, der auch gegen das Brünner Bedauern geiferte, spielen aber noch eine große Rolle.

Die Vertreibung der Deutschen vor 70 Jahren ist in ganz Tschechien ein wichtiges Thema. Durch die Brünner Erklärung manifestiert sich nur, was viele Tschechen denken: dass man sich offener mit dem Thema Kollaboration und Vertreibung auseinandersetzen muss. Brünn hat hier eine souveräne Vorreiterrolle übernommen. Und es passiert nicht oft, dass Prag sich von Brünn etwas abschauen kann.

ALEXANDRA MOSTYN AUS PRAG