SPD-Chef Sigmar Gabriel: Der Öffner
Die Niederlage bei der Bundestagswahl war Sigmar Gabriels Aufstieg. Ein Jahr später will er die SPD wieder attraktiv machen – und steht vor seiner ersten Bewährungsprobe.
BERLIN taz | Es ist ein Samstagmorgen im September, als Sigmar Gabriel über seinen eigenen Berufsstand lästert. Gabriel lehnt an der Bühne im Stadteilzentrum "Alte Feuerwache" in Berlin-Kreuzberg, er hat ein Lächeln aufgesetzt, er will jetzt den Saal für sich gewinnen, es ist keine leichte Aufgabe. "Ich weiß nicht, ob Sie sonst das Pech haben, politische Veranstaltungen besuchen zu müssen", witzelt der Parteichef, "die sind ja oft langweilig, das Ergebnis steht meistens schon vorher fest."
Gabriel eröffnet die erste Bürgerkonferenz. Im Saal sitzen keine Parteisoldaten. Vor dem SPD-Chef haben sich Bürger und Bürgerinnen in einen Stuhlkreis einsortiert, keine Funktionäre. Sie tragen Pullis oder bedruckte T-Shirts statt Sakkos, sie sind jung und alt und mittelalt, nicht nur alt wie in der SPD, und als sie endlich etwas fragen dürfen, fragen sie, wann es eine Rauchpause gibt.
Das offizielle Thema der Veranstaltung heißt "Fairness", doch es geht hier um mehr. Der Parteichef ist gekommen, weil er etwas "supergefährlich" findet: die Struktur seiner Partei, der SPD, die immer älter wird und immer weniger einen Ausschnitt aus der Gesellschaft bildet. Gabriel sagt, gerade deshalb sei es "wichtig, dass sich die SPD öffnet". Und darum ist er hier, auch an einem Samstagmorgen.
Am Sonntag findet der außerordentliche Parteitag der Sozialdemokraten in Berlin statt. Die SPD beschreibt ihn als "Arbeitsparteitag", es werden keine Posten vergeben oder Ämter gewählt. Im Zentrum stehen die Themen Integration, Wirtschafts- und Steuerpolitik. Zum ersten Thema wird es zum Auftakt um 10 Uhr eine Diskussionsveranstaltung geben, bei der auch der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky auftritt. Zudem haben die Delegierten bei der allgemeinen Aussprache nach der Rede von Parteichef Sigmar Gabriel die Möglichkeit, sich zu dem Thema zu äußern. Eine lebhafte Diskussion wird auch über die Steuerpolitik erwartet. In ihren Leitantrag hat die SPD geschrieben, dass sie den Spitzensteuersatz von 42 auf 49 Prozent anheben will und dieser erst ab 100.000 Euro Einkommen greifen soll. Offen ist allerdings, wie die Steuerkurve verlaufen soll - ein Vorschlag sieht deutliche Steuersenkungen auch für Gutverdiener vor. Dagegen protestieren unter anderen die Jusos. (gor)
Vor einem Jahr begann mit der Niederlage der Partei bei der Bundestagswahl Sigmar Gabriels Aufstieg an die Spitze der SPD. Er war der, den lange keiner wollte und der auf einmal der letzte Kompromisskandidat war.
Er hatte eine Pflichtaufgabe im ersten Jahr seiner Amtszeit: Er musste die Partei mit den Sozialreformen der eigenen Regierungszeit versöhnen, mit Hartz IV und der Rente mit 67.
Gleichzeitig hat Gabriel in diesen ersten zwölf Monaten den Öffnungsprozess der Partei begonnen. Mittlerweile vergeht kaum eine Woche, in der er nicht eine neue Form der Bürgerbeteiligung vorschlägt. Erst wollte er über das Bildungssystem abstimmen lassen, dann über den Kanzlerkandidaten, neuerdings auch über Atomkraftwerke.
Gabriel will dies auf zwei Arten: Zum einen fordert er Volksabstimmungen, wie in der Bildungspolitik. Denn die bewegt die Betroffenen, das hat die Entscheidung über die Schulreform in Hamburg gezeigt. Zum anderen will er über Parteikandidaturen in Vorwahlen auch Nichtmitglieder entscheiden lassen. In seiner Heimatstadt Goslar wurde vor einigen Jahren ein Landrat nach diesem Prinzip gewählt. Durchgesetzt hat sich am Ende derjenige, den die Parteifunktionäre nicht wollten. Es gab ein öffentliches Interesse wie selten im Harzrandgebiet. Das hat Gabriel beeindruckt.
Und dann war da noch der Frühsommer dieses Jahres.
Im Juni steht der Parteichef im Unterdeck der MS "La Paloma" auf dem Wannsee, die konservativen Seeheimer in seiner Partei haben zur traditionellen Spargelfahrt geladen. Es gibt reichlich guten Wein, doch in der SPD wissen sie an diesem Tag noch nicht, ob sie wirklich einen Grund zum Feiern oder sich vielleicht nur selbst ein Bein gestellt haben.
Mit an Bord ist Joachim Gauck, gerade hatte die Parteispitze den stramm liberal-konservativen Bürgerrechtler zum Bundespräsidentschaftskandidaten ausgerufen. Man müsse auch hinter ihm stehen, wenn er mal nicht genau das sagt, was die SPD erwarte, meinte Gabriel damals in seiner kurzen Rede. Gauck, kein Parteisoldat, tritt für die Sozialdemokraten für das höchste Amt im Staat an. Damit könnte etwas zu gewinnen sein, dachte der Parteichef.
Risiken für Gabriel
Am Ende des Monats hieß der Bundespräsident zwar Christian Wulff, aber Gauck hatte zuvor das politische Berlin verzaubert, Titelseiten geschmückt, die Internetseite Facebook erobert wie sonst Lady Gaga und dem rot-grünen Lager damit den gefühlten Triumph des Jahres beschert. Am Ende sagte Gabriel, wenn er dann immer noch Parteichef sei, werde die SPD 2014 wieder mit einem Kandidaten antreten, der nicht aus der Partei kommt.
Externes kommt an. Und plötzlich wollten auch Externe wieder mitmachen. "Wir müssen uns als Partei öffnen", sagt Thüringens Wirtschaftsminister und Gabriel-Intimus Matthias Machnig, "die Leute wollen mitbestimmen." Es dürfe keine virtuelle Mitbestimmung sein, "die wollen real partizipieren". 72 Prozent der Wahlberechtigten haben bei der letzten Bundestagswahl ihre Stimme abgegeben, ganze 5 Prozent weniger als 2005, "verdammt wenig", wie Gabriel im Stadtteilzentrum in Kreuzberg sagt. Das Interesse an Parteipolitik schwindet.
Doch Gabriel weiß, dass eine Öffnung der Politik als Reaktion risikoreich ist. Er weiß, dass es viele in der SPD gibt, die kein Interesse daran haben, dass Nichtmitglieder auf einmal mitbestimmen dürfen, nachdem sie selbst sich seit Jahr und Tag für keine Ortsvereinssitzung zu schade gewesen sind. "Die Diskussion wird zum Teil mit Skepsis gesehen", wird in der Partei unter der Hand zugegeben. "Manche Mitglieder fühlen sich ausgestoßen", sagt auch Gabriels ehemaliger Innenminister in Niedersachsen, Heiner Bartling, "da muss Überzeugungsarbeit geleistet werden."
Für Parteienforscher Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen ergeben die Pläne des Parteichefs "ein Spannungsverhältnis, das schwer aufzuheben ist". Zwar sei es der richtige Weg, Aufmerksamkeit etwa durch Vorwahlen zu erregen, doch würden sich Menschen eben nicht nur aus ideologischer Motivation einer Partei anschließen. "Die wollen mitentscheiden und einen Nutzen aus der Mitgliedschaft haben", so Korte. "Dieser wird durch Öffnungsprozesse aber ausgehebelt."
In den Ländern wird allerdings schon fleißig umgesetzt, was der Parteichef in Berlin plant. Vergangene Woche meldete sich Ralf Stegner bei Gabriel. "Wir sind in Schleswig-Holstein schon mitten im Öffnungsprozess", teilte der Landeschef aus dem Norden Gabriel mit. Stegner hat selbst einen Vorwahlkampf vor sich, der Kieler Oberbürgermeister Thorsten Albig will bei der Landtagswahl 2012 genau wie er als Spitzenkandidat antreten. Es sei "bemerkenswert", auf wie viel Interesse die 15 Treffen stoßen, in denen er sich mit Albig duellieren werde. "Wir hoffen, dies auch als Werbung für die SPD nutzen zu können", sagt Stegner. Und auch sein Amtskollege Heiko Maas dachte kürzlich laut darüber nach, in Vorwahlen über die Spitzenkandidatur im Saarland entscheiden zu lassen.
Gabriel selbst würde auch über seine eigene Kanzlerkandidatur abstimmen lassen - auch wenn Parteifreunde sich sicher sind, dass er selbst Kandidat werden könne, wenn er nur wolle. Doch Gabriel weiß, dass er hinter den Kulissen stets ein Mann ohne Truppen war und es im Prinzip immer noch ist. Und Bestätigung durch eine Vorwahl würde ihn zusätzlich legitimieren.
Das Streben nach Öffnung
Fraglich ist allein: Wer würde sich trauen, gegen Gabriel anzutreten, der gerade im Licht von Parteitagsscheinwerfern regelmäßig zur Höchstform aufläuft, der die ganze Wucht seiner populistischen Fähigkeiten ausleben kann? Und so ist das Streben nach Öffnung der Partei immer auch das Projekt eines Mannes, der draußen begeistern konnte, in der SPD aber nicht so verankert ist wie viele seiner Kollegen.
Nicht wenige in der Partei befürchten, Gabriels Handeln sei insgesamt tendenziell kurzfristig angelegt. Wird er, wie es alle erwarten, Kanzlerkandidat bei der kommenden Bundestagswahl, dann wird sich zeigen, ob er diese Rolle ausfüllen kann. Denn dann braucht Gabriel auch ein wenig des Seriösen, Weltmännischen, das sein Konkurrent Frank-Walter Steinmeier schon durch seine Zeit als Außenminister hat. Die Bevölkerung ist skeptisch: Was sein persönliche Beliebtheit angeht, dümpelt er meist in der Region von FDP-Wirtschaftsminister Rainer Brüderle oder der Grünen Renate Künast. So richtig traut man ihm nicht.
Die Baustellen der SPD
Es liegt noch mehr als ein Jahr vor der Entscheidung, es gibt noch ein paar Baustellen auf dem Weg. Ganz zufrieden könne er sein mit der öffentlichen Stimmung, die sich für die SPD wieder deutlich aufgehellt hat. Wer hätte das vor ein paar Monaten gedacht, sagt Gabriel dann.
Auch die vor einem Jahr heillos zerstrittenen Parteiflügel sind versöhnt; manche spotten, sie seien unsichtbar. Doch Gabriel hat durch Selbstdisziplin und politischen Instinkt auch in die SPD hinein die Grundlage dafür geschaffen, dass er ihr jetzt mit seinen Öffnungsbemühungen etwas zumuten kann.
Am Sonntag auf dem Parteitag werden auch viele der 100 Besucher von der Kreuzberger Bürgerkonferenz dabei sein. Der Vorsitzende hat sie persönlich einladen lassen, es soll so etwas wie die Zusammenführung der Normalos mit den Unnormalos, den Parteimenschen, sein. Danach sollen sie einen Brief schreiben, was ihnen gefallen hat und was nicht, hat Gabriel sie bei der Bürgerkonferenz aufgefordert.
Dann können sie ihn beobachten, aus den hinteren Reihen. Anders als bei der Bürgerkonferenz wird Gabriel nicht an einer kleinen Bühne lehnen.
Er wird ganz vorne stehen, weit weg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen