SPANNUNGSFELD NORD-SÜD: Wird der Süden vom Osten verdrängt?
Zwar wird die Entwicklungshilfe kaum abnehmen, aber für die wirtschaftliche Zukunft der Dritten Welt spielt sie nur eine geringe Rolle. Entscheidend sind vielmehr Kapitalinvestitionen und Handelsströme. Und hier liegen die Interessen der EG eindeutig im Osten, in Afrika und dem Mittelmeerraum, während Lateinamerika und Asien auf der Prioritätenliste abzurutschen drohen. ■ VON ZAKI LAIDI
Der Einsturz der Berliner Mauer hat eine breite geopolitische Debatte ausgelöst. Sie thematisiert die Zukunft der Länder des Südens in einer dynamischen Welt, vor allem aber die Gefahr der Ausgrenzung, die sich aus der vorrangigen Rolle des Ostens für den Westen ergeben hat. Ist die Angst vor einer kollektiven Vernachlässigung begründet? Wahrscheinlich nicht, betrachtet man das Votum für den Osten als das Resultat einer globalen, brutalen und launischen Entwicklung. Vielleicht doch, interpretiert man die „Dynamik des Ostens“ nicht als die Ursache, sondern als das enthüllende Moment der tiefgreifenden weltweiten Veränderungen, die den Süden teilweise benachteiligen.
Bei der Ost-Süd-Debatte kommt es vor allem auf die Wahrnehmungen an. Die Länder des Südens konnten von der Schnelligkeit nur überrascht werden, mit der der Westen sich für den Osten mobilisiert hat. Sie mußten beobachten, wie schnell die Europäische Gemeinschaft bereit war, gemeinsam reformwillige Länder in Osteuropa wie Polen, Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn zu unterstützen und wie rasch sie die Gründung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Osteuropas (EBWE) beschlossen. Gleiches gilt für die Umschuldung für Polen, zwangsläufig auch die Zurückhaltung, mit der die „großen sieben“ bei ihrem letzten Gipfeltreffen in Paris die Nord-Süd-Problematik behandelten, die Engherzigkeit, mit der die finanzielle Absicherung des letzten Lomé-Abkommens ausgehandelt wurde, oder die bescheidenen Folgen des Brady-Plans für die Schuldenreduzierung.
Diese größere politische Flexibilität gegenüber dem Osten im Vergleich zum Süden beruht offensichtlich auf geopolitischen und kulturellen Überlegungen. Schließlich ist es verständlich, daß Europäer anderen Europäern gegenüber schneller bereit sind zu helfen, als den weit entfernten Lateinamerikanern. Doch ist nicht nur kulturelle Nähe im Spiel. Schon seit über zehn Jahren kann man im Westen einen Rückgang der vielfältigen politischen, kulturellen und sozialen Kräfte beobachten, die die Entwicklungen in der ehemaligen Dritten Welt aufmerksam verfolgten. Gesellschafliche Mobilisierungen sind sehr gezielt und vor allem karitativer Natur. Gleich, ob nun die ideologischen Illusionen oder die Hilfsleistungen auf dem Müllhaufen gelandet sind, der Süden ist offenbar kein Kassenschlager mehr. Selbst die Idee, anderen zu helfen, um sich selbst etwas Gutes zu tun, hat ihre Anziehungskraft verloren.
Wie zeigt sich die Ost-Süd-Problematik jenseits dieser Wahrnehmungen? Will man verallgemeinernde und oberflächliche Überlegungen vermeiden, ist es angebracht, zwei Hypothesen zu untersuchen: die einer bewußten Entscheidung, den Süden zum Wohle der Allgemeinheit auf dem Altar des Ostens zu opfern, und die subtilere Hypothese einer induzierten Entscheidung, die auf einem veränderten Kräfteverhältnis in der Weltwirtschaft basiert.
Der ersten Hypothese zufolge sind die Risiken einer Ausgrenzung des Südens relativ gering. Es gibt sicher westliche Staaten, allen voran die USA, die darauf hin arbeiten, die staatliche Hilfe für den Osten mit den Zahlungen an den Süden zu addieren und zu verbuchen. Das Ziel dieses Manövers ist jedoch klar. Der Westen könnte so bei seinen öffentlichen Leistungen für den Süden Abstriche ohne verräterische Zahlen machen, mit anderen Worten, die Summe der weltweit geleisteten Entwicklungshilfe wäre die gleiche. Frankreich widersetzt sich der neuen Idee, alles in einen Topf zu werfen und hat vorläufig den Kampf gewonnen. Das heißt, in der Schlacht, die auf der Bühne der OECD ausgefochten wurde, ging es nicht so sehr um Summen, die auf dem Spiel stehen, sondern um Symbole, an denen gerüttelt wurde. Schließlich begreift jeder, daß die Entwicklungshilfe bei der Unterstützung für den Ostens zweitrangig ist. Folglich ist die Konkurrenz mit dem Süden auf diesem Gebiet nur begrenzt. Demgegenüber ist der symbolische Wert viel signifikanter, da die in dieser Frage isolierte Position Frankreichs deutlich zeigt, in welchem Ausmaß die Mehrheit der westlichen Länder bereit zu sein scheint, ihr Engagement im Süden zurückzuschrauben, mit der Ausnahme natürlich, wenn so viel auf dem Spiel steht wie heute am Golf. Trotz allem haben die Neuverhandlungen über das Lomé-Abkommen zwischen der EG und den AKP-Ländern (die Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifik, d.Red.) im Dezember 1989 gezeigt, daß die Risiken der Ausgrenzung nicht allzu groß sind. Schließlich ist es den AKP-Ländern gelungen, die Laufzeit von fünf auf zehn Jahre zu verlängern und an der inflationsbereinigten finanziellen Absicherung festzuhalten. Die Neuverhandlungen über Abkommen zwischen der EG und den Mittelmeerländern stehen ebenfalls unter einem guten Stern. Die Interessenschwerpunkte der EG liegen eindeutig im Osten, in Afrika und im Mittelmeerraum; Lateinamerika und Asien laufen Gefahr, auf der Prioritätenliste abzurutschen.
Soweit ist die Analyse eine Überlegung wert. Aber sie umfaßt das Thema nicht in seiner gesamten Breite. Die Bevorzugung des Ostens gegenüber dem Südens muß auf einer anderen Ebene angesiedelt werden, nämlich der einer beschleunigten Umwälzung der Weltwirtschaftsbeziehungen, die sich vor allem auf drei Achsen vollzieht: der Schaffung optimaler organisatorischer Modalitäten (große regionale Zusammenschlüsse), der Bedingungen des Warenaustausches (Liberalisierung und Protektionismus), und der Struktur des Handelsgefüges (Dominanz der immateriellen Güter). Wenn sich die beschleunigte Entwicklung im Osten auf diesen drei Ebenen vollzieht, spielen die Länder des Südens eine Außenseiterrolle.
Alle Industrienationen des Nordens sind mit alleiniger Ausnahme Japans Teil regionaler wirtschaftlicher Zusammenschlüsse, die sich durch deutlich herausgebildete economies of scale (Kostenvorteile der Massenproduktion, d.Red.) charakterisieren lassen. Im Süden existieren derartige Bündnisse nur auf dem Papier. Im Laufe der achtziger Jahre hat die regionale Dynamik nachgelassen. Den Ländern des Südens bieten sich nun zwei sich ergänzende Strategien an: die Regenerierung der regionalen, durch die Schuldenkrise ausgebluteten Pole, oder das Aushandeln einer privilegierten Annäherung an den dynamischen Norden. Ein Land wie Mexiko konnte diesen in der Tat rasanten Lauf der Entwicklung als einer der ersten Staaten des Südens erkennen. Es strebt nun eine möglichst schnelle Integration in das nordamerikanischen Staatengefüge an, um weder durch den europäischen Binnenmarkt von 1992 noch die Folgen einer verstärkten wirtschaftlichen Ost-Orientierung ins Hintertreffen zu geraten. Kein anderes südliches Land verfügt über die Trümpfe Mexikos oder eine vergleichbar schnelle Reaktion. So fordert die Bildung des europäischen Binnenmarktes vom Süden beispielsweise eine viel stärkere Anpassung an die normalerweise restriktiv gehandhabte Angleichung der technischen Normen. Die Exportländer für Phosphat, Tabak oder Blumen werden mit starren wirtschaftlichen Maßnahmen der EG rechnen müssen. Vor allem die Fähigkeit, sich im regionalen Kontext zu begreifen und auf die regionalen Zusammenschlüsse des Nordens einzustellen, dürfte in den neunziger Jahren zum Faktor einer stärkeren Differenzierung zwischen den Ländern des Südens werden. Mit der Bildung regionaler Zusammenhänge werden liberale Kräfte freigesetzt und gleichzeitig implizit protektionistische Prozesse ausgelöst. Es ist nun an den Ländern des Südens, ersteres zu nutzen und die Auswirkung des letzteren abzuschwächen.
Die spektakulärsten Auswirkungen der Liberalisierung des Handels werden im finanziellen Bereich stattfinden. Dazu zählen umfangreiche finanzielle Transaktionen, die ohne großen Zeitaufwand zu bewerkstelligen sind. Die neuen finanziellen Forderungen des Ostens haben für den Süden bereits unheilvolle Konsequenzen gezeitigt. Die Zinsen sind weltweit gestiegen, eine Entwicklung, die den Süden gleich dreifach bestraft: durch die Verteuerung der Kredite, eine stärkere Schuldenbelastung und die Bevorzugung des Ostens gegenüber dem Süden bei Investitionen. Erstaunlicherweise wirkt sich dieser Prozeß der Ausgrenzung ebenso auf die USA aus, da von nun an Europa die Zugmaschine der Weltwirtschaft sein wird. Angesichts solcher Umwälzungen bildet der Süden ein sehr heterogenes Gefüge. Thailand und Malaysia oder Mexiko haben weniger zu fürchten als Nigeria oder die Philippinen.
Der dritte Faktor schließlich betrifft die Struktur des weltweiten Warenaustausches, bei dem die immateriellen Güter eine immer größere Rolle spielen. Traditionell verfügten die Länder des Südens über zwei große Vorteile: Rohstoffe und billige Arbeitskräfte. Mit Ausnahme der Erdöl exportierenden Länder spielen diese Vorteile eine geringere Rolle. Der Norden ist immer weniger von Lieferungen aus dem Süden abhängig, weil er die Güter selbst herstellt oder in der Lage war, Ersatzprodukte zu entwickeln (keramische oder synthetische Stoffe). In weniger als zehn Jahren ist der Anteil des Südens am Rohstoffverbrauch der EG um zehn Punkte zurückgegangen. Die einzige und entscheidende Ausnahme bildet die Energieversorung aus der Golfregion. Was die Arbeitskräfte anbelangt, so sind die Entwicklungen nicht ganz so schmerzhaft, wenngleich auch spürbar. Computergesteuerte Produktionsprozesse benötigen weniger oder qualifiziertere Arbeitskräfte. Das erklärt, warum heute vier Fünftel aller Neuinvestitionen im Norden getätigt werden. Somit wird die Zukunft der Wirtschaft des Südens stärker auf Investitionen aus dem privaten als aus dem öffentlichen Sektor beruhen. Der Osten wird für den Süden nicht länger Mittel zum Zweck eines politischen Kuhhandels mit dem Westen sein, sondern, im günstigsten Fall, eine Quelle von Rivalität und Auslöser eines unerwarteten wirtschaftlichen Anpassungsdrucks.
Zaki Laidi ist Professor am Institut d Edutes Politiques und Mitarbeiter des Centre National des Recherches Scientifiques in Paris.
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