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Archiv-Artikel

SPANDAUER GEDÄCHTNISLÜCKEN Das Geheimnis der Zitadelle

Manches liegt vegraben unter märkischem Sand

VON HELMUT HÖGE

Der Bezirk Spandau ist berühmt vor allem wegen seiner „Zitadelle“, einer preußischen Festung. Daneben gab es in Spandau auch das ebenfalls berühmte und wie eine Festung aussehende „Spandauer Kriegsverbrechergefängnis“, einst ein preußisches Militärgefängnis, das 1987 – nach dem Tod des letzten Häftlings, Rudolf Heß – abgerissen wurde, damit Neonazis es „nicht zu Propagandazwecken missbrauchen“ (Wikipedia). Und vis-à-vis der Zitadelle befindet sich ein riesiges leer stehendes Gebäude, in dem sich früher eine Munitionsfabrik befand.

Mit allen drei Objekten hatte zuletzt Hitlers Architekt Albert Speer zu tun. Er war 1942 zunächst Reichsminister für Bewaffnung und Munition und dann bis zur Kapitulation Leiter der Kriegswirtschaft des Deutschen Reichs. 1946 musste er für 20 Jahre im Spandauer „Kriegsverbrechergefängnis“ einsitzen. Dort gelang es ihm, den riesigen Garten samt Park unter seine Kontrolle zu bringen, wo er fortan täglich im Kreis spazieren ging. Rudolf Heß riet ihm, nach jeder Runde eine Erbse von der linken Tasche in die rechte zu stecken. So könne er abends die Anzahl seiner Runden in Kilometer umrechnen. Speer entwickelte diese Idee weiter und stellte sich vor, er würde von Spandau aus über seine Heimatstadt Heidelberg nach Italien, Ägypten, Indien und China wandern – und über Alaska bis nach Kalifornien, wo sein alter Freund Wernher von Braun gerade freundliche Aufnahme gefunden hatte. Als er am 30. September 1966 entlassen wird, hat er 31.936 Kilometer zurückgelegt. Rückblickend meinte er in seinen „Spandauer Tagebüchern“: „Wahrscheinlich war dies der einzig greifbare Ertrag der Spandauer Jahre.“

In seine Zuständigkeit als Minister für Bewaffnung und Munition gehörte sowohl die Spandauer Munitionsfabrik als auch die Zitadelle. Auf der Festung wurde bis 1918 der „Reichskriegsschatz“ gelagert, ab 1935 waren dort die Heeres-Gasschutzlaboratorien untergebracht. Im selben Jahr hatte das Heereswaffenamt beschlossen, dass Gas- und Kampfstoffmunition hergestellt werden solle. Ihre Entwicklung erfolgte bis 1945 in der Spandauer Zitadelle, wo 400 Wissenschaftler und Laboranten arbeiteten. Sie erprobten Arsenöl, Blausäure, Lost, Tabun, Sarin, Chlorcyan, Chloracetophenon, Adamsit, Aeroform, Excelsior und etliche andere Gifte. Daneben ging es ihnen auch um die Erprobung von Entgiftungs- und Gasschutzmethoden.

Zwar gibt es jede Menge Bücher über die Spandauer Zitadelle und ihre Geschichte. In einigen werden auch die Heeres- Gasschutzlaboratorien erwähnt, außerdem befindet sich im Museum der Zitadelle eine Vitrine mit Glasbehältern aus den Laboratorien. Man erfährt jedoch nirgendwo genau, was die Wissenschaftler dort trieben. Ebenso dünn ist das Material über das Kriegsverbrechergefängnis und die Munitionsfabrik, obwohl man ansonsten in Spandau gern mit der „Historie“ wuchert.

1987 berichtete der Spiegel, dass noch zehn Jahre nach dem Krieg mehr als 100 der Chemiker, die in der Zitadelle mit Giftgas experimentiert hatten, an Vergiftungssymptomen litten. Die Ärzte bescheinigten ihnen eine „tiefergreifende Persönlichkeitsveränderung“ und eine „Dauerschädigung durch Nervengifte“. Aber schlimmer noch: Das Gift, das sie krank machte, „bedroht in Resten womöglich bis heute die Berliner Bevölkerung“, denn im Nordtrakt der Spandauer Zitadelle, „werden noch immer geringe Kampfstoffdosen vermutet, die nunmehr geborgen werden sollen“. Dazu wurde eine Spezialtruppe der Polizei abkommandiert.

Was aber geschah nun genau in den Spandauer Laboratorien? Von Tierversuchen ist nichts bekannt, ebenso wenig ließ sich bisher die These eines Museumswärters auf der Zitadelle bestätigen, wonach die Giftgase, wenn, dann an KZ-Häftlingen erprobt wurden. 1945 hatte man die Laboratorien eilig evakuiert. Ein Teil der Gifte wurde auf der Zitadelle vergraben, es gelangte davon jedoch immer wieder etwas an die Oberfläche. „Mehrfach musste in der Vergangenheit schon Gasalarm gegeben werden“, schreibt der Spiegel. Mal wurden einige 100 Glasröhrchen mit Augenreizstoff sichergestellt, mal „15 verschießbare Kartuschen“, gefüllt mit Lost, einem Hautgift, das im Ersten Weltkrieg als Senfgas eingesetzt wurde. Auch „Riechtöpfe, Inhalt: 1 g Kampfstoff“, lagerten Jahrzehnte unter märkischem Sand.