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Archiv-Artikel

SOZIALARBEIT AN DER PERIPHERIE Das Gemeinwesen

Knapp überm Boulevard

ISOLDE CHARIM

Kürzlich besuchte ich das Schöpfwerk, eine Trabantensiedlung am Rande von Wien. Obwohl sie nur 15 Autominuten vom Zentrum entfernt liegt, kommt einem die Reise dahin vor wie eine ethnologische Exkursion. Das Schöpfwerk ist die Hardcore-Version von sozialem Wohnungsbau. Ein eigenes Universum – mit eigener Schule, Läden, die den Charme einer Armenspeisung haben, und 70 Prozent migrantische Bewohner.

Frau Schnee interveniert

Dort traf ich Renate Schnee. Renate Schnee ist das, was man eine Sozialarbeiterin nennt. Aber tatsächlich ist das, was sie macht, Community-Arbeit. Sie reagiert nicht nur auf Zustände, sondern agiert, bietet an, interveniert. Diese Art der Gemeinwesenarbeit, so die elegante deutsche Übersetzung, ist heute eine der zentralen politischen Aufgaben und Funktionen. Sozialarbeiter sind die entscheidenden Transmissionsriemen zwischen einer „verwahrlosenden“ – migrantischen oder nichtmigrantischen – Unterschicht und der Politik. Verwahrlosung meint hier eine Form der gesellschaftlichen Nichtintegration. Das ist ein soziales, kein ethnisches Problem. Und sicher nicht einfach auf eine Bringschuld zu reduzieren, wie ein unverkrampfter Konservativismus heute gerne verlauten lässt.

Ein zentraler Moment von Renate Schnees Arbeit ist die Förderung der Kommunikation – etwa durch einen wöchentlichen Gratisflohmarkt, wo Menschen Dinge, die sie nicht mehr brauchen, abgeben, die andere unentgeltlich mitnehmen können. Ein letzter Rest von Begegnung auf dem dörflichen Markt weht da durch die Souterrainräume der Sozialstation. In die Kommunikation wird aber auch interveniert. Etwa wenn die Kioskbesitzerin, ein zentraler Meinungsumschlagplatz, geschult wird, um beim Verkauf der Zeitungen gegen die hetzerischen Schlagzeilen der Boulevardblätter zu argumentieren. Ein letzter Rest an Volksbildung.

Eine weitere Stoßrichtung dieser Arbeit lautet: Empowerment, Ermächtigung. Die Hilfe zur Selbsthilfe hat seit den Hartz-IV-Reformen der Regierung Schröder einen schalen Beigeschmack. Aber während der „aktivierende Sozialstaat“ auf die Produktion von marktgängigen Individuen abzielte, geht es bei dieser Art von Aktivierung um die Förderung von Teilhabe am politischen Geschehen. Etwa durch die Gründung eines Bürgerradios, das es den Menschen erlaubt, sich mit diesem Instrument direkt an Politiker zu wenden, die dadurch etwa für Statements am Telefon erreichbar sind.

Ein drittes Moment dieser sozialpädagogischen Arbeit unter den besonderen Bedingungen einer ethnisch gemischten Population lautet Konfrontation. Der niederländische Soziologe Paul Scheffer meinte, wir müssten akzeptieren, dass Migration eine Verlusterfahrung für beide Seiten sei – für Migranten, die ihre Heimat verlassen haben, ebenso wie für Einheimische, deren vertraute Lebenswelten sich rapide verändern. Nun könnte man hinzufügen, dass diese Verluste nicht symmetrisch sind, da es sich bei dem der einheimischen Bevölkerung vorwiegend um den Verlust an kultureller Hegemonie handelt – ein etwas anderer Verlust von „Heimat“ als jener von Migranten also. Wie aber geht die kluge Community-Arbeit mit diesen Verlusterfahrungen um? Zum Beispiel indem sie Migranten in die Mietervertretung integriert, die „immer schon“ fest in einheimischer Hand war. Der Widerstand dagegen artikuliert sich als Streit um den richtigen Namen: Wie bezeichnet man die „Neuen“, die zwar auch Österreicher, aber doch etwas anderes sind? Community-Arbeit heißt, hier eine Einigung zu befördern. Sie nennen sich jetzt Alt- und Neuösterreicher. Scheffer meint, Bereicherung könne Migration erst dann sein, wenn sie dazu führt, dass wir unsere eigenen demokratischen Institutionen hinterfragen und beleben.

Als dann ein Politiker die Mietervertretung besucht, sind alle Alt- und Neuösterreicher plötzlich „Schöpfwerker“, gemeinsam gegen die Obrigkeit – wie in Enzensbergers bekanntem Zugbeispiel, wo der als Eindringling abgelehnte „Neue“ in dem Augenblick zum Verbündeten mutiert, in dem ein Dritter, eine neuer „Eindringling“ das Abteil betritt.

Und die Stadtverwaltung? Sie reagiert angemessen auf so viel gelungene Integration. Vor Jahren kürzte sie deren Budget und hielt diese Sozialarbeiter an, künftig vor allem Kindernachmittage zu organisieren.

■ Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien