SONNTAGSVERGNÜGEN : Nicht nach Dakar
Sie löffelt neben mir in ihrem 6-Minuten-Ei, während sie das Kreuzworträtsel löst, das unsere Sonntagvormittage immer so schön zusammenhält. Im Moment grübelt sie nach, wie wohl die Hauptstadt des Senegal heißt. Sie will dabei wirken, als läge es ihr auf der Zunge. Immer macht sie das so. Sonntags. Sie schwenkt nachdenklich den Löffel in der Luft wie einen Taktstock, der ihre Gedanken dirigiert. Vieles trägt sie souverän ein, dann wiederum schwenkt sie den Löffel und lässt ihr Ei warten. Am besten gefällt mir, dass ihr immer irgendeine Stadt auf der Zunge liegt.
Jeden Sonntag während des Frühstücks geht ihr das so. In diesen Momenten küsse ich sie am liebsten. Sie zu küssen ist natürlich immer eine angenehme Sache, aber das während unserer Kreuzworträtselsonntage zu tun, während ihr eine Stadt auf der Zunge liegt, das ist noch mal eine ganz andere Sache, das ist wie verreisen. Sofia, Havanna, Edinburgh, immer hat sie eine Metropole für mich parat. Letzte Woche Toronto, nicht zu vergessen Wladiwostok kurz vor Weihnachten. Ich bin ganz schön herumgekommen, seit ich sie kenne. Heute ist es wieder so weit. Sie schwenkt den Löffel und ahnt nicht, dass ich bereits wieder auf gepackten Koffern sitze. Gleich ist Dakar an der Reihe.
„Hauptstadt des Senegal …“, überlegt sie laut. „Vorletzter Buchstabe ein a … die heißt … die heißt, ich hab’s gleich, liegt mir auf der Zunge.“ In Gedanken habe ich schon eingecheckt, da setzt sie doch plötzlich den Stift an und trägt das Wort „Dakar“ ein. Ihre Augen leuchten, dann küsst sie mich. Und auch wenn ihr dabei nichts mehr auf der Zunge liegt, es ist eine schöne Angelegenheit. In etwa so, als dürfte ich zur Entschädigung ein paar sentimentale Urlaubsfotos anschauen: Sehenswürdigkeiten in Farbe, von Havanna bis Edinburgh, Erinnerungen an das Fernweh der letzten Jahre.
JOCHEN WEEBER