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Archiv-Artikel

SNCF, GEORGIEN, NVA-FUMMEL, „WAMS“, „DER KRIEG“, HAARAUSFALL Was ist echt? Und was davon ist Wirklichkeit?

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STEFFEN GRIMBERG

Was Realität ist, wird in letzter Zeit immer unschärfer. Es geht mittlerweile zu wie beim wieder mal wegen Geschäftsaufgabe ausverkaufenden Teppichhändler, der in seiner Verzweiflung mittlerweile „echte Originale“ anpreist.

Doch was ist echt? Und was davon ist Wirklichkeit? Da erscheint gestern Vormittag eine echte, auch höchst professionelle Störungsmeldung auf der Website der französischen Staatsbahnen SNCF: Am Morgen sei es bei der nördlich von Lyon gelegenen Stadt Mâcon zu einer Explosion in einem TGV gekommen. „Erste Schätzungen der Feuerwehr gehen von 102 Toten und 380 Verletzten aus“, so die SNCF-Website. Zum Glück kam die Entwarnung prompt: Das Ganze war eben keine Realität, auch kein übler Scherz, sondern ein fehlgeleiteter Teil einer Katastrophenübung bei der Bahn. Er hatte den Weg in den öffentlich zugänglichen Teil der Website gefunden. Kein Grund zur Panik, alles fein, zur Belohnung gibt’s hinterher auch ein Eis.

In Georgien sah das am Wochenende bekanntlich ganz anders aus: Hamsterkäufe, Handynetz- und menschliche Zusammenbrüche, sogar Tote sollen aufs Konto der am Samstagabend vom regierungsnahen Imedi TV prophylaktisch gemeldeten Invasion der russischen Armee gehen (taz von Montag). Die Zweitverwendung der Originalaufnahmen vom Einmarsch im August 2008 – zu real, um doch nicht echt zu sein.

Womit wir beim aktuellen Sat.1-Schocker „Die Grenze“ wären: Das völlig zu Unrecht geschmähte Machwerk muss endlich mal gelobt werden! Gerade weil es nie und nimmer auch nur ansatzweise in Gefahr läuft, für bare Münze genommen zu werden. Selbst von den abgelenktesten ZuschauerInnen nicht, die nur dann und wann beim Schlafen/Bügeln/Lesen einen Blick auf den Bildschirm werfen: Katja Riemann als Kanzlerin? Hihi, zum Wegwerfen komisch! Uwe Kockisch als standhafter Zinnsoldat? Hatte der ’ne Wette verloren und musste sich deswegen in den NVA-Fummel zwängen? Und erst dieser Nazi von der Erbgutpartei DNS, ein missratener James-Bond-Fiesling mit Banker-Allüren im Büroausstatterambiente. (Kulisse war ja auch die Berliner DZ-Bank am Brandenburger Tor.) Zum Schütteln, keinesfalls zur Rührung fähig. Nur bei Springers Welt am Sonntag regte sich was.

Allerdings müssen sie da etwas falsch verstanden haben und schieben „Die Grenze“ dezent den Öffentlich-Rechtlichen in die Schuhe: „So stellen sich die Fernsehmacher die Gebührenzahler vor“, greint Alan Posener und fordert: „Diese Karikatur eines Politthrillers zu boykottieren, wäre eine patriotische Pflicht.“ Zumindest die Millionen von WamS-LeserInnen scheinen’s zu beherzigen: Nur 4,7 Millionen Menschen schalteten beim ersten Teil ein, Regisseur Roland Suso Richter hatte sich mindestens 7 gewünscht.

Doch auch das wirklich gebührenfinanzierte deutsche Fernsehen sorgt für echt-falsche Momente, die nach hinten losgehen können. Der vielerorts gelobte Dreiteiler „Der Krieg“, der am Montag in der ARD zu Ende ging, hat schon lange vor der Ausstrahlung bei diversen Dokfilmern zu Haarausfall geführt: Denn die in aller Pracht, zu der Sepiatöne fähig sind, nachkolorierte Fleißarbeit wird künftigen Generationen das Leben schwer machen. Schon jetzt gelten die verwaschen-bunten Bilder vom Krieg oft als „echte“ zeitgenössische Farbaufnahmen – und dürften sich so demnächst in zahlreichen, nicht ganz so sorgfältig editierten Dokumentationen wieder finden. Die Welt bleibt eben bunt.

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