: SEL-Entlassungen: Berlin geschockt
■ Vorstandschef des Elektrokonzerns bestätigt Massenentlassungen im Berliner Werk — 1.200 Angestellte sollen rausgeworfen werden
Berlin. Die Standard Elektrik Lorenz AG (SEL) wird an ihrem Standort Berlin 1.200 Arbeitsplätze in der Fertigung abbauen. Wie der SEL- Vorstandsvorsitzende, Gerhard Zeidler, gestern mitteilte, sollen davon rund 500 Arbeitsplätze im Rahmen eines neuen SEL-Strukturkonzepts und Fertigungsverbundes in die Werke Gunzenhausen/Bayern, Mannheim und Arnstadt/Thüringen verlagert werden. Vor allem die in Berlin gefertigten digitalen Nebenstellenanlagen sollen in Zukunft in Gunzenhausen produziert werden.
Derzeit beschäftigt die SEL insgesamt 20.500 Mitarbeiter bei einem Umsatz von rund vier Milliarden Mark im Jahr 1990. Ein SEL-Sprecher erklärte, bis zum Jahresende 1991 werde die SEL als Folge des neuen Strukturkonzepts noch 19.900 Mitarbeiter haben. Die SEL kündigte an, daß aufgrund der guten Auftragslage der Umsatz im Jahr 1991 »deutlich steigen« wird. Für Sozialpläne und Umzugskosten hat die SEL einen dreistelligen Millionenbetrag eingeplant. Zu dem Protest des Betriebsrates sagte der SEL-Vorsitzende: »Wir mußten dies jetzt tun. Die SEL muß mit kontinuierlichen Rationalisierungsbemühungen ein Kostenniveau erreichen, das den Weltmarktpreisen entspricht.«
Der SEL-Chef fuhr fort: »Wir haben nicht vor, den Standort Berlin aufzugeben, sondern wir wollen ihn neu strukturieren.« Zur Zeit sind bei SEL in Tempelhof 2.200 Mitarbeiter tätig. SEL will in Berlin entwicklungs- und kundenorientierte Dienstleistungen konzentrieren. Zu den bisher vorhandenen 400 Beschäftigen in diesen Arbeitsgebieten sollen jetzt 600 weitere aus Entwicklung, Anlagenbau und Verwaltung des von SEL in der ehemaligen DDR gegründeten Gemeinschaftsunternehmens RFT/SEL kommen. Die Arbeitsstätten im Ostteil Berlins sollen aufgelöst werden. Insgesamt will SEL auch nach der Umstrukturierung mehr als 1.500 Mitarbeiter in Berlin beschäftigen. In Berlin bleibt dann im Produktionsbereich nur noch die Bahnsteuerungstechnik. Die bisherige Produktion von Quarzen in Berlin mit einem Lohnkostenanteil von über 50 Prozent und 240 Mitarbeitern, soll in ein Billiglohnland außerhalb Europas abgegeben werden.
Zeidler sprach von einem dramatischen Preisverfall im Telefongeschäft. Während vor acht Jahren für einen Telefonapparat noch 150 Mark in Rechnung gestellt werden konnten, seien es heute nur noch 45 Mark und in Kürze 30 Mark.
Wirtschaftssenator Norbert Meisner (SPD) sprach von einer Entscheidung, die »unternehmerischen Weitblick« vermissen lasse. Er forderte SEL auf, trotz des drohenden Abbaus der Berlinförderung die Pläne zu überdenken. Der Senat stehe für Gespräche jederzeit zur Verfügung. SEL solle »ein deutliches Zeichen unternehmerischer Verantwortung für Berlin und die Menschen dieser Stadt« setzen.
Arbeitssenatorin Christine Bergmann (SPD) sprach von einem unsolidarischen Verhalten gegenüber Berlin. Allein innerbetriebliche Sachzwänge könnten nicht überzeugen. Berlin brauche in der wichtigen Übergangsphase unternehmerische Phantasie, Risikobereitschaft und Verantwortung für die Stadt. Frau Bergmann erklärte weiter, sie sehe die unklare Situation um die Streichung der Berlinförderung als eine unzumutbare Belastung für Betriebe und Beschäftigte an.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Horst- Achim Kern, forderte ein behutsames Auslaufen der Berlinförderung, weil sich auf diese Weise die schwierige Übergangszeit bis zur wirtschaftlichen Gesundung Berlins weit weniger schmerzhaft gestalten würde, als angesichts der Bonner Absichten zu erwarten sei. dpa
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