SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN : Unsichtbares Zentrum
„osteuropa“ (Hrsg. DGO): „Schichtwechsel“, 528 S., 32 €; „In Bewegung“, 204 S., 10 €
Was östlich vom westlichen Mitteleuropa passiert, das kann man in Deutschland am besten in der Monatszeitschrift osteuropa nachlesen. Außer auf Pflichtthemen wie etwa die Parlamentswahlen in Ungarn und den dortigen Rechtsruck, denen sie sich in ihrer aktuellen Nummer („In Bewegung. Ungarn, Tschechien, Bergkarabach“) widmet, schaut sie auch auf das, was nicht unbedingt aktuell erscheint, aber dennoch konstant in der Debatte ist. Die Mai-Ausgabe „Altersbilder. Kriegserinnerungen, Demographie und Altenpolitik“ richtet den Fokus auf Elemente der Erinnerungskultur, die am wenigsten Gegenstand akademischer Analysen oder politischer Rituale ist, wie beispielsweise die soziale Lage jener Menschen, die heute die letzten Zeitzeugen sind.
Eine der beeindruckendsten osteuropa-Ausgaben erschien kürzlich unter dem Titel „Schichtwechsel. Politische Metamorphosen in der Ukraine“. Neben Artikeln zur wirtschaftlichen Lage oder zur Situation der Demokratie sind dort Aufsätze über Beziehungen zu den Nachbarländern, Analysen rechtsextremer Tendenzen sowie der Aidsproblematik zu finden. Für den Otto Normalwesteuropäer hört irgendwo hinter Polen seine „mental map“ auf. Dass „Ukraine“ nicht nur metaphorisch, sondern tatsächlich auch übersetzt „am Rand“ oder „Grenzland“ bedeutet, lässt sich allerdings historisch erklären.
Grenze zur Steppe
In seinem Aufsatz über „Das historische Erbe der Ukraine“ schreibt Andreas Kappeler, dass erstmals im 12. Jahrhundert die Bezeichnung Ukraine auftauche und ursprünglich das Gebiet an der Grenze zur Steppe markiere – und sesshafte Ackerbauern von Nomaden trennte.
Zwar habe die Grenze mit der Besiedelung der Steppe ihre Bedeutung verloren. Doch im kollektiven Gedächtnis der Ukrainer lebe sie bis heute fort, da sie Lebensraum der Kosaken war, der heldenhaften Protagonisten des Nationalmythos der Ukraine, denen der Nationaldichter Taras Schewtschenko ein Denkmal setzte. Wie bei allen Nationalmythen werden auch hier kräftig die blinden Stellen poliert. Während der Kosakenaufstand von 1648 in der ukrainischen Historiografie als nationale Revolution (Schaffung des Kosaken-Hetmanats) erinnert werde, habe er sich schmerzlich in die jüdische Geschichte eingeschrieben als erster Pogrom in Osteuropa, schreibt Kappeler.
Auch der Dnjepr, an dessen Ufern das Kosaken-Hetmanat erschaffen wurde, gewann einiges symbolisches Kapital als Nationalfluss, schließlich gilt das Hetmanat als Ursprung ukrainischer politischer Kultur und somit als Entstehungsort ukrainischer Staatlichkeit, wie man in einem schönem Aufsatz von Rainer Lindner über die Geschichte der Flusses Dnjepr lernt. Als wichtige Verkehrsader zwischen Ostsee und Schwarzem Meer habe er vor allem wirtschaftliche Bedeutung erlangt. Doch während der Christianisierung der Kiewer Rus Ende des 10. Jahrhunderts erhielt er sogar den Status eines heiligen Flusses, da Fürst Vladimir der Heilige eine Massentaufe in seinen Gewässern anordnete.
Regionale Unterschiede
So sehr der Fluss mit Kiew an seinem Ufer bis heute für die ukrainische Staatlichkeit steht, so sehr spaltet er das Land. Lange Zeit war er etwa die formale Grenze zwischen dem polnischen König- und dem russischen Zarenreich. Im Zuge der orangen Revolution von 2004 wurde der Dnjepr immer wieder als Trennlinie des Landes instrumentalisiert: im Osten die blauen, russlandtreuen Kräfte und westlich vom Fluss die orangen, prowestlichen Wähler.
Die Wahlen im Frühling dieses Jahres zeigen hingegen, dass man lediglich in grober Vereinfachung von „zwei Ukrainen“ sprechen kann, Geografie und Politik überschneiden sich immer weniger. Die Angst, der Dnjepr könnte das Land zweiteilen, verliert ihren Realitätsgehalt. Sehr genau beschreibt Susan Stewart in ihrem Beitrag „Das unsichtbare Zentrum“ die regionalen Unterschiede der Ukraine und rettet sie vor der allzu schematischen und arroganten Aufteilung in West und Ost, die sich oft in der Berichterstattung niederschlägt.
In seinem Beitrag „Mythenbildung“ rechnet der 1980 geborene Kiewer Journalist Witali Atanasow mit der Erinnerungskultur ab: Der deutsche Export von Mauerfragmenten in osteuropäische Städte, die Zeichen der Freiheit sein wollen, lassen sich nach Atanasow auch anders lesen: „Das Fragment der Berliner Mauer verweist weniger auf die Befreiungserfahrung als auf neue Mauern, die zwischen den Ländern bestehen.“ Die erniedrigenden Prozeduren, die ukrainische Staatsbürger an westlichen Botschaften über sich ergehen lassen müssen, um an ein Visum zu gelangen, polnische Grenzbeamte, die an der nach Osten gerückten europäischen Außengrenze in jeder Ukrainerin und jedem Ukrainer potenzielle Migranten sieht – all das seien alltägliche Grenzerfahrungen. Die Mauer mag keine physische Gestalt mehr haben. Doch nach wie vor ist sie in den Köpfen. PHILIPP GOLL