SCHNAPPATMEN MIT PROFESSOR GIGERENZER : Hatten Sie Angst vor dem isländischen Vulkanausbruch?
VOLKSBILDUNG In diesem Jahr feiert die Urania 125-jähriges Jubiläum. Unsere Autorin feiert mit und schaut sich dafür immer mal wieder um im Haus
Schon beim Namen weiß man, wo der Hammer hängt. Neben dem Teleskop nämlich. Einem alten, goldenen Teleskop, mit dem Alexander von Humboldt einst in die Sterne schielte und auf den Planeten Uranus scharf stellte. Vielleicht ist den Gründern der „Gesellschaft zur Verbreitung der Freude an der Naturerkenntnis“ der Name auch beim Durchblättern historischer griechischer Mythologie untergekommen: Urania ist die Muse der Astronomie.
Urania. Nicht Urinia, wie böse Zungen lästern und damit einen fiesen Seitenhieb auf das angebliche Durchschnittsalter der BesucherInnen abgeben. Diese Schandmäuler waren einfach noch nie hier! Höchstens mal bei der Berlinale oder der Vorführung eines Kinofilms, der nicht mehr in den Programmkinos lief. Aber wenn sie im U-Bahnhof warten, schließen sie vor dem Urania-Monatsprogrammposter ignorant die Augen.
Sonst wären sie mal hingegangen. So wie ich. Es geht nicht an, jahrzehntelang unglaubliche Vortragstitel zu lesen und nicht zu wissen, was sie bedeuten. In diesem Jahr feiert die Urania ihr 125-jähriges Bestehen, also wird mitgefeiert und die Qual der Wahl durchlitten: Fast wären es im April „Frauenklöster in der Lüneburger Heide“ geworden, jedoch hält mich ein Freskenproblem davon ab. Auch „Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten“ musste, trotz berückender Logik im Titel, ohne mich stattfinden. Stattdessen soll Professor Doktor Gerd Gigerenzer in seinem Vortrag „Risiko – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ endlich mal genau das erklären.
Ein Volltreffer: Gerd Gigerenzer ist der Hotshot der Populärwissenschaftsszene. Sein Vortrag im Kleistsaal der Urania ist ausverkauft, es ist voller als im Easyjet nach London, neben den engen Holzstuhlreihen lümmeln sie sogar studentisch auf dem Boden und strafen das Best-Ager-Vorurteil Lügen.
Der Psychologe und Forscher Gigerenzer, weißhaarig, honorig, schnauzbärtig, menetekelt gleich mit voller Kraft voraus: Hatten Sie Angst vor dem isländischen Vulkanausbruch? Der Immobilienkrise? Rinderwahnsinn? Hä? Nein, hatte ich nicht, wieso sollte man überhaupt drei dermaßen unterschiedliche Phänomene in einem Satz denken? Aber das ist Gigerenzers Tour: Er klöppelt verschiedenste Themen zusammen, dass Erratiker vor Freude schnappatmen. Er vermisse Risikokompetenz in unserer Gesellschaft, erklärt Gigerenzer und begründet dies mit einer Art nicht genau benannter Verschwörung quasi aller Menschen, die nicht bei seinem Vortrag sind. Zum Glück bin ich dabei und passe auch gut auf!
Totaler Quatsch, aber clever
In England gab es wegen einer falsch berichteten und darum falsch verstandenen Meldung über angebliche Gefahren durch die Anti-Baby-Pille vor einiger Zeit einen Abtreibungsanstieg. Gigerenzer liest dazu den Brief einer Frau vor, die beklagt, sie „habe ein Leben getötet“, und lässt die moralischen Bedenken der Betroffenen, die ja rein gar nichts mit der aus gesundheitlichen Gründen abgesetzten Pille zu tun haben (man kann auch anders verhüten) in seine Argumentation gegen die Falschaufklärung der Medien fließen. Clever! Totaler Quatsch, aber clever!
Gigerenzer referiert weiter, über die erhöhte Autounfallhäufigkeit nach 9/11 in den USA, über die Banken, die jedes Jahr wissentlich Falschprognosen über den Dollarkurs machen, bis zu der Behauptung, die meisten Menschen dächten bei der Wetterprognose „Regenwahrscheinlichkeit 30 Prozent“, dass es in 30 Prozent der Orte regnet. Irre Idee. Aber beeindruckt konstatiert man: Das Publikum ist eine andächtige Masse von Wissenden, die nicht gemerkt haben, dass gerade fehlende Signifikanz mit fehlender Signifikanz bekämpft wurde. Ist auch nicht so wichtig. Hauptsache, man glaubt, dass man weiß, und man denkt, dass man lernt. Nach Hause wird der M 19 genommen. Autofahren ist gefährlich. JENNI ZYLKA