SCHICKSAL IM MINUS : Goethes Karma
Halb aufgeregt, halb glücklich, halb nervös. Das ist mindestens eine Hälfte zu viel, wenn man zu einem Bewerbungsgespräch fährt. Fünf Stunden hatte ich morgens in einem alten Mercedes verbracht, um von einem spontanen Aufenthalt in München rechtzeitig zurück in Berlin zu sein. Nun die U-Bahn. Noch einmal umsteigen, eine Station, die letzte.
Alles eine Sache des Karmas, dachte ich. In letzter Zeit hatte ich dort allerdings nicht gerade viele Bonuspunkte gesammelt. Mein Schicksalskonto befand sich vielmehr im Minus. Das kannte ich schon von meiner Bank. Wenn sich nicht schnellstens etwas änderte, müsste ich bei Buddha höchstpersönlich einen Dispo beantragen. Dabei musste ich dringend etwas unternehmen, um meine Chancen zu steigern.
Da rief mich eine leise Stimme. Ich folgte ihr ein paar Schritte und sah einen kleinen alten Mann. Nach vorne gebeugt sagte er ein Gedicht von Goethe auf. Ein Spuckefaden rann ihm währenddessen das Kinn hinab. Ohne nachzudenken griff ich nach dem gesammelten Kleingeld, das sich in meiner Handtasche angehäuft hatte,und legte es in den Pappbecher, den der Bettler fest umklammerte. Ein Zigarettenloch am Boden des Bechers nahm meine Münzen entgegen.
Der kleine Mann blickte auf und sah mich an. Er unterbrach sein Gedicht. „Willst du mich heiraten?“, fragte er. Das Kompliment tat mir gut, es kam überraschend, aber zum richtigen Zeitpunkt.
Ich antwortete: „Vielleicht morgen, wenn es nicht regnet.“ Seine Augen wurden feucht, und er strahlte. „Morgen wird es nicht regnen“, sagte er leise. Dann rezitierte er „Suleika“ von Goethe. „Die Sonne kommt! Ein Prachterscheinen! / Der Sichelmond umklammert sie. / Wer konnte solch ein Paar vereinen? / Dies Rätsel, wie erklärt sichs? wie?“ Und ich stieg aus, um mein Glück zu versuchen. MARLENE GOETZ