SCHEIBENGERICHT: NEUE PLATTEN KURZ BESPROCHENVON CHRISTOPH WAGNER :
Freischaffend
The Parley of Instruments: The Noble Bass Viol Hyperion (CDA 67088)
Ab Mitte des 17. Jahrhunderts stieg London zum Zentrum der Weltwirtschaft auf. Als führende Musikmetropole Europas wirkte die Stadt wie ein Magnet auf Komponisten und Instrumentalisten vom Kontinent, die hier – und das war neu in der Geschichte – erstmals als freischaffende Künstler ihren Lebensunterhalt verdienen konnten.
Schon Mitte des 16. Jahrhunderts hatten Musiker aus Italien die Gambe eingeführt, die innerhalb von ein paar Jahrzehnten zum beliebtesten Instrument des häuslichen Musizierens wurde. Selbst das große Bassinstrument der Gambenfamilie erfreute sich so großer Beliebtheit, dass Komponisten eigens Stücke dafür schrieben. Neben einheimischen Komponisten wie Henry Purcell trugen auch Musiker aus dem deutschen Emigranten-Zirkel in London, wie Gottfried Finger und Georg Friedrich Händel, zum Repertoire des dickbauchigen Streichinstruments bei, das sich als äußerst geschmeidig und sonor erwies. „Nicht nur bringt sie vortreffliche Klänge hervor, sondern sie verfügt auch über einen derart großen Umfang, dass sie obere, mittlere und untere Stimmen erschallen lässt“, lobt eine zeitgenössische Quelle die Bassgambe.
Die aktuelle Einspielung des englischen Spezialistenensembles The Parley of Instruments macht die Wertschätzung der Zeitgenossen verständlich. Unter der Leitung von Peter Holman und mit Mark Caudle als Solisten gelingt es dem Ensemble, die Qualitäten des Bassgambenklangs voll zur Geltung zu bringen.
Doch währte die Verehrung nicht allzu lange. Als sich das englische Könighaus ab 1660 am Hof des Sonnenkönigs von Versailles orientierte, kam französische Violinmusik in Mode und die Bassgambe ins Hintertreffen. Um 1720 war das einst hoch angesehene Streichinstrument nahezu vollständig von der öffentlichen Bühne verschwunden: Die Geige hatte den Sieg davon getragen.
Karnatisch
Kalaimamani Kadri Gopalnath: Gem Tones – Saxophone Supreme (South Indian Style Globestyle CDORBD 097)
Die klassische indische Musik gilt als relativ neuerungsresistent. Trotzdem haben im 20. Jahrhundert gesellschaftliche und technologische Entwicklungen tiefgreifende Veränderungen bewirkt, die meist aus dem Westen kamen. Mit Kolonisten und Missionaren gelangte die Violine und das Harmonium nach Indien. Später verschaffte Sivkumar Sharma dem Santoor, ein Hackbrett, Eingang in der nordindische Hindusthani-Musik, während Kadri Golpalnath das Saxophon in die karnatische Musik des Südens einbrachte. Normalerweise werden in Indien musikalische Traditionen mündlich vom Vater an den Sohn weitergegeben, was auch bei Kadri Golpalnath der Fall war. Er lernte zuerst das Spiel des Nagasvarams, eines oboenartigen Blasinstruments, bevor er auf einem Schulausflug einer Blaskapelle begegnete, deren Saxophonsatz ihn augenblicklich faszinierte. Wie sich herausstellte, eignete sich das Instrument ausgezeichnet für die indische Musik, weil man darauf Töne modelieren und biegen konnte.
Den vokalen Duktus der südindischen Musik hat Golpalnath in seinem Saxophonspiel zur Perfektion entwickelt, das er im Wechselspiel mit der Violine zur phantasievollen Entfaltung bringt. Der surrende Rhythmus der Maultrommel füllt die Ruhephasen, bis prasselnde Schläge der Mridangam-Trommel die Solisten zu noch gewagteren Ausflügen animieren.
Traditionell
Gianluigi Trovesi/Gianni Coscia: In cerca di cibo (ECM 1703)
Das Akkordeon ist alles andere als ein typisches Jazzinstrument. Trotzdem hat es in den letzten Jahrzehnten in der improvisierten Musik an Akzeptanz gewonnen. In Italien hat Gianni Coscia den Horizont des traditionellen Volksmusikinstruments aufgebrochen. Allerdings ist der ehemalige Rechtsanwalt, der sich heute seine Brötchen als Begleitmusiker der Sängerin Milva verdient, kein Bilderstürmer, sondern tastet sich vorsichtig im unbekannten Gelände vor. Im Duo mit dem Klarinettisten Gianluigi Trovesi dienen Tanzmelodien, Schlagerschnulzen und traditionelle Jazznummern als Ausgangspunkt, die jedoch nicht in Freejazz-Manier „zerspielt“ werden, sondern als intime kammermusikalische Miniaturen auferstehen.
Trovesi und Coscia kultivieren lieber den Klang der beiden Instrumente, als dass sie deren improvisatorischen Möglichkeiten voll ausschöpfen. Nur ab und zu steigen sie aufs Tanzparkett herab, um sich mit ein paar prallen Dixie-Reminiszenzen energischer Gehör zu verschaffen. Ansonsten dominiert der bedächtige Ton. Melancholie war schon immer die treueste Gefährtin des Akkordeons und eine enge Vertraute der Klarinette sowieso.
Repetativ
Jah Wobble & the Invaders of the Heart: Molam Dub (30Hertz Records HZCD12)
Als Punk ist sich Jah Wobble treu geblieben. Trotz sporadischer Heimsuchungen durch die Verlockungen des Popgeschäfts hat der englische Bassist seine Seele nicht an die Industrie verkauft. Nach seinem Ausscheiden aus Johnny Lydons PiL, der Nachfolgeband der Sex Pistols, schlug er eine Richtung ein, die ihn immer mehr an den Rand der Rockszene führte.
Vom Songformat hat sich Wobble längst verabschiedet und sich dafür repetativen Mustern zugewandt, die Trance-Effekten zuarbeiten – ein Phänomen, das man aus diversen außereuropäischen Musikkulturen kennt.
Ein Stil mit trancehafter Dimension ist die Molam-Musik aus Nordost-Thailand und Laos, in deren Zentrum die gebetsmühlenartige Rezitation epischer Gesangsverse steht, die abwechselnd von einem Sänger und einer Sängerin vorgetragen werden. Begleitet wird das Gesangspaar dabei von der Mundorgel Khene, einem Blasinstrument aus Bambus mit polyphonen Möglichkeiten. Bei einer Tempel-Feier oder einem Familienfest kann ein Molam-Auftritt acht bis zehn Stunden dauern, wodurch sich schon allein durch die schiere Länge trancehafte Wirkungen einstellen. Um nicht schlapp zu machen, wechseln sich zwei Begleitmusiker stundenweise ab, da ein einzelner Khenespieler die Strapazen eines solchen Marathons nicht durchstehen würde.
Daheim im Hausstudio in Manchester hat Jah Wobble ein laotisches Exilensemble aus Paris aufgenommen, den „asiatischen Rap“ mit hypnotischen Bassläufen und groovenden Drumbeats unterlegt, die auf einem Stück vom Meister der Trancerhythmen im Pop, Jacki Liebezeit von Can, getrommelt werden. Außerdem reicherte er das Ganze mit ein paar elektronischen Verfremdungseffekten und Überblenden an.
Experimentell
Thurston Moore/William Winant/Tom Surgal: Lost to the City – Noise to Nowhere (Intakt Records CD 055)
In den 90er-Jahren drängte der Neotraditionalismus im Jazz die freie Improvisationsmusik ins Abseits. Die Traditionspfleger hatten deshalb leichtes Spiel, weil der innovative Impuls des Freejazz erschöpft schien.
Als Retter in der Not erwies sich eine Handvoll Rock- und Popmusiker, die mit neuer Lust der Freemusic eine Frischzellenkur verabreichten. Dabei taten sich besonders die Gitarristen der amerikanischen Band Sonic Youth hervor, allen voran Thurston Moore. Unterstützt von zwei ausgewiesenen Experten des experimentellen Spiels, den Perkussionisten Tom Surgal und William Winant, präsentierte sich Moore beim Züricher Taktlos-Festival 1997 als abstrakter Klangmaler. Mit leisen Brummgeräuschen und Glöckchengebimmel hob das Konzert an, um sich nach und nach zu einer brachialen Soundorgie zu steigern, mit quietschender Gitarrenrückkopplung und Donnerschlägen von den Drums. Aus dem Geist der Elektrizität erfand Moore sein Gitarrenspiel neu, indem er die versteckten Resourcen des Instruments wie Dröhngeräusche, Schwelltöne und splitternde Sounds zu einem komplexen Klanggewebe verband.
Den Verdacht vom Popstar, der sich einmal kurz als wilder Mann gebärdet, entkräftete Moore durch die Ernsthaftigkeit und Konsequenz, mit der er zu Werke ging, wobei er sich als profunder Kenner der Materie zeigte. Alle wesentlichen Aufnahmen der Initiatoren des experimentellen Gitarrenspiels, wie etwa Ray Russell und Sonny Sharrock, befinden sich seit langem in Moores riesiger Schallplattensammlung. Nur die Debütplatte von Altmeister Derek Bailey fehlt in seiner Kollektion. Könnte es sein, dass Thurston Moore bei jedem Auftritt der imaginären Musik dieses Albums nachträumt?
Paradox
Budowitz: Wedding without a Bride (Buda Musique 92759-2)
Die Klezmermusik durchläuft im Moment eine interessante Phase. Nach den ersten naiven Annäherungsversuchen in den 70er-Jahren geht es inzwischen darum, die „authentische Spielweise“ und „historische Aufführungspraxis“ der jüdischen Hochzeitsmusik Osteuropas realitätsnah zu rekonstruieren.
Das multinationale Ensemble Budowitz gilt als die führende Formation bei der Wiederentdeckung des alten Klezmersounds, der teilweise radikaler klingt als die brachialen Experimente der Klezmer-Avantgarde. Mit Originalinstrumenten aus dem 19. Jahrhundert, einer Phrasierungstechnik, die alten Schellackplatten von Belfs Rumänischem Orchester abgelauscht ist und Mikrotöne, Schleiftöne und Glissandi verwendet, sind die Musiker um den amerikanischen Hackbrett- und Akkordeonspieler Joshua Horowitz einem Klang auf der Spur, der orientalischer und damit ungewohnter klingt als jede noch so bizarre Klezmer-Rock-Fusion.
Nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit erweist sich als die reichhaltigere Schatzkammer unbekannter Klänge. Die Hochzeit als eines der zentralen Ereignisse jüdischen Lebens bildet den Hintergrund und den inneren Zusammenhang der Titelfolge, wobei jede Etappe des mehrtägigen Zeremoniells musikalisch nachgezeichnet wird.
Das Material stammte zum Teil aus der Erinnerung des fast 90-jährigen Polen Majer Bogdanski, der seit Ende des Zweiten Weltkriegs in London lebt. Bogdanski hatte in seiner Kindheit als Sänger des Synagogenchors von Piotrkow (nahe von Lodz) an unzähligen Hochzeiten teilgenommen und dabei Lieder gesungen, die ihm bis heute im Gedächtnis geblieben sind.
Budowitz erweckt diesen verloren geglaubten Melodienschatz mit einer solchen Leidenschaft und Virtuosität zu neuem Leben, dass die spirituelle Dimension dieser Gebrauchsmusik deutlich zum Vorschein kommt. Wen wundert’s? Nach jüdischem Verständnis wird eine Ehe ja sowieso nicht auf der Erde, sondern im Himmel geschlossen.
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