SCHAMVOLLE LANGEWEILE : Total voll
Die Treppe rauf zum Zentrum Kreuzberg, vorbei an den Wettbüros, hin zum Off-Theater ganz am Ende. Ein Raum, ein Tresen, ein paar Dutzend Stühle, keine Bühne. Es ist komplett ausverkauft, es gibt eine Warteliste und enorme Aufregung. Wir werden begrüßt mit den Worten: „Ich hoffe, ihr habt reserviert. Wir sind total voll heute.“ Dieser Satz wird bei jedem Gast wiederholt. Vielleicht gehört das alles schon dazu, denken wir. Es ist ein Stück über Flüchtlinge und mit ihnen, genau genommen mit einem Flüchtling, der seine Geschichte erzählen soll. Wir sind total voll. Mehr geht wirklich nicht.
N. erzählt von einer Diskussion, wo sie kürzlich war, und dass die Flüchtlinge langsam keine Lust mehr hätten, auf jede Theaterbühne gezerrt zu werden. Der Raum wird dunkel, die Jalousien werden heruntergelassen. Sie schließen uns ein, draußen werden die Leute weggeschickt. Gehört das jetzt schon dazu?
Die Dolmetscherin verlangt nach Wasser, noch zehn Menschen ohne Plätze, in die Unruhe hinein ein Knall. Eine Frau ist mit dem Mülleimer zusammengebrochen. Jemand befreit sie aus dem blauen Plastiksack, während alle anderen versuchen, nicht zu lachen. Es ist der letzte, heitere Moment, danach fallen uns die Augen zu, und wir schämen uns dafür, dass wir uns langweilen. Doch da sitzen zwei Männer und zupfen auf Gitarren. Wie ein bekiffter Abend im Studentenwohnheim ist das, als die Jungs dachten, sie jammen, aber sie haben bloß die Saiten gestreichelt, stundenlang, und man war zu müde, um zu gehen. Jetzt ist man zu höflich, um zu gehen. Es ist auch immer was Neues, was einen am Gehen hindert. Zwischen der Müdigkeit und der Höflichkeit lag eine jahrelange Phase, in der man fürchtete, etwas zu verpassen. Wir halten durch, wir verpassen nichts, wir stehen draußen, sehen uns ratlos an und N. sagt: „Aber die ersten zehn Minuten, bevor es anfing, die waren grandios.“ LUCY FRICKE