SCHADEN FÜRS LEBEN : Grille lebt
Direkt vor mir schreit ein Mädchen, weil es schon auf den Fahrradsitz will, aber Mama noch nicht bereit ist dafür.
„Was hab ich gesagt?“, fragt Mama. „ ‚Warte‘ oder ‚okay‘?“ Das Kind zuckt mit den Achseln. „Ich hab nichts gesagt“, sagt Mama. „Das heißt ‚warte‘.“
Ich les ja immer wieder, dass eine einzige Bemerkung ein Kind fürs ganze Leben verkorksen kann. Was, wenn das Kind jetzt immer wartet, wenn mal grad keiner was sagt? Oh je, denke ich, und schau schnell woanders hin.
Ein paar Meter weiter kniet ein Junge und schreit abwechselnd „Ja“ und „Nein“, schon fast mit System. Auf dem Boden vor ihm hockt eine Grille. „Ja“, schreit der Junge und streckt ein Stück Pappe in ihre Richtung. „Komm her!“ Die Grille krabbelt auf die Pappe und dann weiter auf seine Hand. „Nein“, schreit der Junge und schmeißt die Pappe weit von sich. Dann holt er sie sich zurück und streckt sie der Grille erneut hin. „Ja!“ Die Grille kommt und krabbelt. „Geh weg!“ Wieder fliegt das arme Tier durch die Luft, und dann geht’s von vorne los. Ja, nein, komm her, geh weg – ich denke, der Junge hier hat jetzt aber doch schon ’nen Schaden, so irgendwie jedenfalls. „Hat der ’nen Schaden?“, frag ich also meine Begleitung. Meine Begleitung arbeitet in einer Kita; der wird so was wissen.
„Nein“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Dann versteh ich das nicht.“ Er schaut mich an. „Na, ist doch logisch“, sagt er. „Die Grille soll kommen.“
„Tut sie ja auch.“ „Aber doch nicht auf die Hand.“ „Nee?“ „Nee.“ „Tut sie aber.“ „Eben.“ „Und deswegen schreit der so?“ Meine Begleitung nickt. Ich überlege. „Bist du dir sicher, der hat keinen Schaden?“, frage ich dann. „Ich mein, so ’ne Grille tut doch nicht weh.“ „Aber sie lebt.“ „Ach so“, sage ich, als hätt ich’s kapiert. „Sie lebt.“ Ich nicke ganz ernst, aber heimlich denke ich doch, der Junge spinnt, so ein ganz kleines bisschen zumindest.
JOEY JUSCHKA