SARS: CHINA MACHT DIESELBEN FEHLER WIE DIE UDSSR NACH TSCHERNOBYL : Zwangsmaßnahmen statt Aufklärung
Erst wird geschwiegen, dann schöngefärbt. Bis der Gang der Katastrophe zur Flucht nach vorne zwingt. Der Umgang autoritärer Regime mit der Öffentlichkeit folgt stets dem gleichen Schema. Die Informationspolitik der sowjetischen Regierung unmittelbar nach der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 hätte der chinesischen Führung ein Menetekel sein müssen, als sie Ende des letzten Jahres Kenntnis von der SARS-Epidemie in Chinas Süden erhielt.
1986 wurde die Katastrophe drei Tage lang geleugnet. Als skandinavische Messinstrumente sie dann anzeigte, wurde ihr Umfang heruntergespielt. Die Evakuierungsaktionen liefen zu spät an und waren der Katastrophe verzweifelt unangemessen. Noch nach Jahren wurde die Zahl der Opfer grob gefälscht. Für Gorbatschow war Tschernobyl der letzte Anlass, die Politik von Glasnost und Perestroika anzukurbeln. Aber der Verlust von Vertrauenswürdigkeit war nie wieder gutzumachen.
Blickt man auf die Maßnahmen der chinesischen Führung seit letzter Woche, so könnte man schließen, sie folge dem Prinzip rückhaltloser Unterrichtung der Öffentlichkeit, habe also aus Tschernobyl gelernt. Ein Trugschluss, denn nach wie vor werden wichtige Informationen zurückgehalten. Wo traten genau die Krankheitsfälle auf, und wann wurden sie diagnostiziert? Zwei Fragen, auf die es keine Antwort gibt, deren Beantwortung aber eine Prognose über die mögliche weitere Verlaufsform der Epidemie zuließe. Jetzt werden nach bewährtem Muster Funktionäre geschasst, und es wird – über den Kopf der Bevölkerung hinweg – Entschlossenheit demonstriert. Nicht Aufklärung, sondern Informationskanalisierung plus Zwangsmaßnahmen. Panische Reaktionen seitens der Bevölkerung sind die Folge.
Aber anders als nach Tschernobyl gibt es heute in China Wissenschaftler und Ärzte, die die Informationspolitik der Machthaber durchkreuzen und sich an die internationale Öffentlickeit wenden. Glasnost muss nicht mehr von oben verkündet werden, sie wächst im Angesicht der Katastrophe inmitten der Gesellschaft. CHRISTIAN SEMLER