SAMBUCA UND JÄGERMEISTER : Die Wahl der Waffen
Also, erstens gehe ich sowieso nie mehr in das Kaufland an der Karl-Marx-Straße. Und zweitens schon gar nicht am Freitagabend um 21 Uhr. Um diese Zeit ist der Neuköllner Supermarkt zu einem gigantischen Späti geworden, in dem offenbar nur noch Alkohol an Bedürftige abgegeben wird.
Vor mir hält sich ein Senior mit spinnnetzhaftem Langhaar nur mit der Hilfe seines Einkaufswagens aufrecht. Er trägt eine graue Jogginghose, deren Hosenboden auf die Höhe der Kniekehlen herabgesackt ist, und riecht. Auf dem Laufband liegen sechs Flaschen Billigbier, die er mit genau abgezähltem Kleingeld bezahlt. Einen vergnügten Abend vorhersagen würde ich nur den beiden stark geschminkten, schnatternden Girlies (eine Flasche Sambuca) und den munteren Hipstern mit Vollbärten (Jägermeister). Alle anderen Kunden stehen mit der Miene von Bürgerkriegstraumatisierten an, um die Waffen ihrer Wahl zu bezahlen, mit denen sie sich gleich in die ewigen Jagdgründe befördern werden: der Grufti mit Nasen-Piercing, langem schwarzen Mantel und hochmütigem Gesichtsausdruck und seine beiden Flaschen Korn. Die Dame im Bürokostüm, die zwei Weinflaschen und Erdnüsse im Wasabi-Mantel auf das Rollband gepackt hat. Der Rentner mit dem Weinbrand.
Was als Nächstes passiert, kann man sich ausmalen, während die Kassiererin mit Pokerface Geld herausgibt. Eine einsame Nacht vor der Glotze oder laute Musik in einer nikotingeschwängerten Einzimmerwohnung? Verworrene Erinnerungen an lang verflossene Geliebte oder Bedauern über nicht gehabte Kinder? Schließlich Internetpornografie oder ein Anruf nach Mitternacht, bei dem man hastig auflegt, wenn am anderen Ende abgehoben wird? Ich wünsche allen hier irgendwann gnädig einsetzenden, tiefen und traumlosen Schlaf.
TILMAN BAUMGÄRTEL